Woerter durchfluten die Zeit
des Bundes reisten ihr halbes Leben lang durch Europa, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Egal ob Krieg oder Frieden herrschten. Oft war es nicht möglich, die gesuchten Bücher zu finden. Oft hatte die Kirche sie schon vernichtet. Es war ein Wettlauf mit der Zeit. Wie viele Bücher geschützt werden konnten, war von Generation zu Generation unterschiedlich. Es kam ganz auf die Umstände an. Mein Großvater sammelte mehr Bücher als jeder Mann vor ihm. Doch ich werde ihn noch übertreffen«, sagte Nathan mit Stolz in der Stimme.
»Und wenn du ein Buch gefunden hast, was dann?«, fragte Lucy.
»Dann muss der Einband kopiert und ein mit dem Original identisches, leeres Buch geschaffen werden. Ein Buch, das die Wörter aufnehmen kann. Ein Schutzbuch, wenn man so will, eine Heimstatt für die Wörter.«
»Und wenn das Schutzbuch fertig ist, liest du den Text aus?«
Nathan nickte. »Ich versenke mich in den Text und nehme die Wörter in mich auf und mein Mal verwebt sich mit ihnen. Besser kann ich es nicht erklären. Es ist eine Art Trance, in die ich mich begebe. Ich öffne meinen Geist. Er wird zu einer Art Portal, der die Wörter in ihr neues Heim überführt. Danach dauert es eine Weile, bis das Buch endgültig verschwindet. Es löst sich nicht sofort von dieser Welt.«
»Was ist mit Chaucer? War das dein Werk?«
Wäre Nathan aufmerksamer gewesen, dann wäre er bei Lucys Tonfall stutzig geworden. Doch so antwortete er ihr wahrheitsgemäß. »Ja, ich habe es vor einem halben Jahr in Wales in unsere Obhut gebracht. Deshalb konntest du die Signatur noch erkennen, wenn auch nur noch schemenhaft. Doch das Buch war schon leer.«
Lucy schwindelte. Das konnte nicht sein. Das gab es nicht.
Und doch, sie musste zugeben, dass etwas an Nathans Worten eine zwingende Logik besaß. Trotzdem konnte es nicht richtig sein. Die Worte, die Bücher, sie gehörten den Menschen, allen Menschen. Sie durften nicht gestohlen werden. Für sie war und blieb es Diebstahl. Möglich, dass es Wissen gab, das vor langer Zeit verboten worden war. Vielleicht hatte diese Art, Bücher zu schützen, einmal seine Berechtigung besessen. Aber heute? Menschen lasen, Menschen lernten und das Wissen der Bücher gehörte nicht einigen wenigen. So etwas durfte es nicht geben.
»Nathan, ich glaube nicht, dass das richtig ist«, sagte sie vorsichtig.
Wütend funkelte er sie an und beugte sich über den Tisch zu ihr. »Es ist unsere Aufgabe, Lucy. Und ich möchte, dass du mir hilfst, sie auszuführen. Die Menschen wissen großartige Bücher, großartige Wörter und Gedanken heute doch kaum mehr zu schätzen. Vielleicht müssen wir die Bücher heute nicht mehr vor der Kirche und den Mächtigen dieser Welt schützen, aber vor den Unwissenden, den Ignoranten und vor der Dummheit.«
Lucy lehnte sich ihm entgegen. Der Zauber zwischen ihnen war verflogen.
»Du kannst nicht darüber bestimmen«, zischte sie. »Niemand kann das. Die Menschen werden sich das Wissen aneignen, für das sie bereit sind. Und wenn Wissen und Gedanken mit der Zeit verloren gehen, dann geschieht das eben. Irgendwann wird jeder gute Gedanke neu gedacht werden, Wissen sich durchsetzen. Es vor den Menschen zu verbergen und wegzuschließen, ist nicht recht.«
Nathans Augen verdunkelten sich vor Zorn noch mehr, wenn das überhaupt möglich war.
Lucy bekam Angst vor ihm. Ohne ein weiteres Wort stand sie auf und zog ihre Jacke vom Stuhl. Sie schlüpfte hinein und wartete auf ein einlenkendes Wort von ihm. Es kam nicht.
»Ich werde jetzt gehen, Nathan«, sagte sie.
Er nickte und sah sie nicht an. Seine Hände lagen zu Fäusten geballt auf dem Tisch.
»Wir sollten morgen noch einmal darüber reden«, versuchte Lucy ihn zum Einlenken zu bewegen.
Nathan nickte wieder nur.
Mutlos wandte Lucy sich ab. So schnell sie konnte, verließ sie das Café und lief durch den Park. Sie hoffte, dass Nathan ihr nicht folgen würde. Erst als das Café längst außer Sichtweite war, fiel ihr auf, dass sie Nathans Schal noch trug.
Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast,
wird es dir an nichts fehlen
Cicero
16. Kapitel
Nathan blieb allein in dem Café zurück. Er schäumte vor Wut. Er ärgerte sich über sich selbst und über Lucy. Weshalb begriff sie denn nicht? Was war so schwer zu verstehen an der Aufgabe, die sie beide zu erfüllen hatten? War er die Sache falsch angegangen? Sein Großvater hatte ihn gewarnt, ihm gesagt, dass die Hüterinnen störrische Weiber seien. Nathan hatte ihm
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