Woerter durchfluten die Zeit
schauderte sie. Sie hatte den Schmerz der Bücher gespürt.
»Wir beide besitzen diese Fähigkeit von Geburt an, doch sie muss geschult werden. Ein Buch wird mit der Kraft der Gedanken in Obhut genommen. Es darf kein einziges Wort zurückbleiben. Als du klein warst, ist dir da nie etwas Seltsames mit Büchern passiert? Waren sie nicht eines Tages in deinem Kopf?« Neugierig sah Nathan sie an und Lucy nickte langsam.
»Genauso war es«, antwortete sie dann verwundert. »Die Worte – sie waren eines Tages einfach da, direkt in meinem Kopf. Es hat ewig gedauert, bis ich begriffen habe, dass das nicht normal war. Aber da hatte ich mich längst daran gewöhnt.«
»Das ist der Moment, ab dem die Kinder des Bundes das Auslesen lernen. Erst ab diesem Zeitpunkt funktioniert es. Man behält diese Fähigkeit auch nicht ein Leben lang, sondern verliert sie mit dem fünfzigsten Lebensjahr. Dich hat bisher niemand darin unterwiesen, aber ich bin sicher, mein Großvater könnte es dir beibringen.« Er griff nach Lucys Hand.
Sie schrak zurück und schüttelte automatisch den Kopf.
»Ich will das nicht, Nathan. Ich spüre den Schmerz der Bücher. Sie trauern um ihre verlorenen Worte. Du musst das doch auch merken.«
Verständnislos sah Nathan sie an. »Die Worte sind nicht verloren, Lucy. Wir bewahren sie. Irgendwann, wenn die Menschen Bücher wieder zu schätzen wissen, werden wir sie zurückgeben.«
»Ihr könnt nicht über die Bücher bestimmen, Nathan. Das ist nicht richtig.« Lucy spürte, dass Wut in ihr hochkochte.
»Doch, das können wir und das müssen wir sogar. So ist es uns vorherbestimmt. Du musst zum Bund zurückkehren.« Sein Ton klang fordernder, als er ursprünglich beabsichtigt hatte. Begriff sie denn nicht, wie wichtig ihre Aufgabe war?
Lucy versuchte, sich zu beruhigen. Sie hatte so viele Fragen.
»Was ist mit den Büchern passiert, die ihr ausgelesen habt?«
Nathan überlegte, wie viel er Lucy erzählen durfte. Dann beschloss er, sich so weit wie möglich an die Wahrheit zu halten. Er musste sie überzeugen, dass sein Weg der richtige war.
»Bevor das Heer des Papstes unsere Zuflucht in Montségur einnahm, befand sich die geschützte Bibliothek im Inneren des Berges. Hunderte Bücher hatten unsere Vorfahren dort in Sicherheit gebracht. Tausende Wörter, die es verdienten, geschützt zu werden. Ein riesiges Labyrinth war über die Jahrhunderte in den Berg geschlagen worden, um die Bücher zu schützen. So viele einmalige Gedanken, Wünsche und Träume, gebannt auf Papier und Pergament. Ein Schatz, dessen Wert nicht zu beziffern ist. Doch der Berg musste verschlossen werden. Es war undenkbar, dass die Bücher dem Papst in die Hände fielen, und so gingen sie für immer verloren. Der Zugang ist für alle Ewigkeit verschlossen. Es gab andere Menschen, Dichter und Denker, die die Worte wieder hervorbrachten und erneut machte der Bund sich an die Arbeit und rettete das Wissen.«
»Und wo sind die Bücher jetzt?«, fragte Lucy, der beim Gedanken daran, dass es unversehrte Exemplare der verlorenen Bücher gab, das Herz bis zum Hals klopfte.
»Ich werde sie dir zeigen, wenn die Zeit reif ist. Der Zugang ist nur den Perfecti erlaubt. Doch wenn du dich uns wieder anschließt und unseren Regeln folgst, dann wirst du die Bücher sehen dürfen.«
»Und wenn nicht?«, fragte Lucy wie aus der Pistole geschossen und verfluchte sich im selben Moment für diese Frage.
Nathan schwieg.
»Was, wenn nicht?«, fragte Lucy nach, da sie die Frage sowieso nicht rückgängig machen konnte.
»Ich weiß es nicht, Lucy. Ich weiß nicht, was dann geschieht«, antwortete Nathan wahrheitsgemäß.
Lucy lehnte sich zurück. Angst beschlich sie bei Nathans Worten. Ihre nächste Frage überlegte sie sich etwas genauer.
»Du hast Alice gelesen und nun arbeitest du an Oscar Wilde. Bedeutet das, dass beide Bücher verschwunden sind?«
Nathan nickte. » Alice ist gerade dabei, vergessen zu werden. Bei Oscar Wilde bin ich noch nicht so weit. Es ist eine aufwendige Prozedur, die Bücher in Obhut zu nehmen. Deshalb müssen wir genau überlegen, für welche Werke wir uns entscheiden.«
»Ok, und wie funktioniert das? Zeichnest du deshalb die Einbände?«
»Ja. Ich muss die älteste Ausgabe des Buches finden, die existiert. Es muss nicht immer ein Original sein. Oft gibt es diese nämlich nicht mehr. Heute ist es mithilfe des Internets viel einfacher, die Bücher, die wir suchen, aufzustöbern. Früher war es schwieriger. Die Kinder
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