Woerter durchfluten die Zeit
furchtbare Schmerzen, sie hatte es gespürt. Weshalb konnte Nathan das nicht fühlen, während er las? Hatte der Bund jemals ein Buch zurückgegeben, fragte Lucy sich. Wie würde das vonstattengehen? Wenn die Originale der Bücher verschwanden, die Nathan oder seine Vorgänger ausgelesen hatten, was passierte dann eigentlich mit den Kopien, die auf der ganzen Welt verstreut waren? Sie konnte nicht glauben, dass in allen Bücherregalen der Welt leere Exemplare davon standen. Verschwanden diese einfach und lösten sich in Luft auf, wie das Grabmal von Chaucer? So musste es sein, eine andere Erklärung gab es nicht. Das war Zauberei oder Magie oder was auch immer. Lucy rieb sich über ihre fröstelnden Arme. Die Kälte kroch tief in ihr Innerstes.
Es war am besten, wenn sie die Bücher selbst fragte. Sie würde noch einmal in das Medaillon schauen. Vielleicht konnte ihr Philippa weiterhelfen.
Lucy nahm einen dicken Pullover aus ihrem Schrank und band sich Nathans Schal wieder um. Dann schlüpfte sie in Schuhe und Jacke und wollte sich auf den Weg zur Bibliothek machen.
Im Flur der Wohnung lief ihr Colin über den Weg.
»Magst du auch einen Tee?«, fragte er.
Lucy schüttelte den Kopf und zog sich dabei ihre Stiefel an.
»Alles in Ordnung mit dir«, fragte Colin unbeirrt weiter.
»Was soll sein?«, fuhr sie ihn an.
Colin hob zur Verteidigung seine Hände. »Hey, Prinzessin. Ich bin’s«, erinnerte er sie und zog sie trotz ihres Widerstandes in seine Arme. »Willst du mir sagen, was los ist?«
Lucy schüttelte ihren Kopf, der an seiner Brust lag. Es fühlte sich sicher an, von ihm gehalten zu werden. Zu gern hätte sie Colin alles erzählt, aber sie fürchtete, ihn in Gefahr zu bringen.
»Heute nicht«, sagte sie dann. »Vielleicht ein anderes Mal.«
»Ok. Ich bin da.«
»Ich weiß.« Lucy machte sich los und verschwand durch die Tür. Eilig lief sie die Treppe hinunter und dann die Straße zur U-Bahn entlang.
Es dauerte eine Weile, bis sie die große, schwarze Limousine bemerkte, die langsam hinter ihr die Straße entlangfuhr. Durch die getönten Scheiben konnte sie nicht sehen, wer sich im Wageninneren befand.
Mehrmals blickte Lucy sich nach dem Gefährt um, doch es machte keine Anstalten, schneller zu fahren. Sie war erleichtert, als sie ihre U-Bahn-Station erreichte und zu den Gleisen hinuntereilte. Hierher konnte das Auto ihr nicht folgen. Sie schüttelte den Kopf. Jetzt litt sie schon an Verfolgungswahn. Vermutlich war dem Fahrer der Sprit ausgegangen oder das Auto hatte einen anderen Schaden.
»Was machst du denn hier?«, fragte Marie verwundert, als sie die Bibliothek betrat. »Du hast doch heute frei. Und überhaupt: Du hast heute nicht zu Hause geschlafen. Wo warst du?«, fragte sie und beugte sich über den Tresen. »Du weißt doch: keine Geheimnisse.«
Lucy lächelte Marie an. »Ich war bei Nathan«, sagte sie dann wahrheitsgemäß. »Aber wir haben uns gestritten und da habe ich mir überlegt, dass ich hier noch zu tun habe«, fügte sie dann hinzu.
»Wie, ihr habt euch gestritten?«, fragte Marie verständnislos.
»Gestritten eben«, sagte Lucy.
»Ihr verbringt eure erste Nacht miteinander und danach streitet ihr euch? Kann ja nicht so besonders gewesen sein«, stellte sie trocken fest.
Lucy spürte, dass sie rot wurde. »Es war nicht so, wie du denkst«, erwiderte sie. »Wir haben nicht … du weißt schon.«
»Nicht?« Marie bekam große Augen. »Was habt ihr dann gemacht? Lass mich raten. Gelesen? Briefmarken sortiert? Lucy, das ist nicht zu fassen. Der Kerl sieht aus wie ein Gott und du verpasst die erste Gelegenheit, über ihn herzufallen?«
»Redet ihr von mir?«, tönte eine dunkle Stimme neben den beiden.
Die Mädchen fuhren herum. Chris hatte sich neben Lucy aufgebaut und grinste nun von einem Ohr zum anderen.
»Ich hab was von einem Gott gehört«, erklärte er. »Da dachte ich mir, die Mädels müssen dich meinen.«
»Chris, du bist so ein Angeber«, lachte Lucy und nutzte die Gelegenheit, um ins Archiv zu verschwinden.
»So kommst du mir nicht davon«, rief Marie ihrer Freundin noch hinterher.
Lucy seufzte. Das wusste sie selbst. Marie und Jules würden sie ins Kreuzverhör nehmen, wenn sie nach Hause kam.
»Hallo ihr«, murmelte Lucy, nachdem sie die steilen Stufen hinuntergestiegen war. »Ich habe Neuigkeiten und ihr müsst mir helfen, zu entscheiden, ob die gut oder schlecht sind.«
Die Bücher wisperten aufgeregt. Lucy lief in ihr Büro und schaltete das
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