Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wofür du stirbst

Wofür du stirbst

Titel: Wofür du stirbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Haynes
Vom Netzwerk:
hatte ich meistens das Problem, dass ich sie von der Arbeit her kannte – nicht, weil sie Kollegen waren, sondern weil ich über sie recherchiert hatte, bis mir ihre Namen oder ihre Gesichter vertraut vorkamen, obwohl ich sie noch nie persönlich gesprochen hatte oder jemals sprechen würde.
    Er legte seine Hand auf meinen Arm. »Na ja«, sagte er freundlich, »Sie machten einen so verlorenen Eindruck.«
    Seine Hand lag immer noch auf meinem Arm, sie war warm, ruhig und fest. Ich hatte das Gefühl, als wäre ich diejenige, die sich an ihn lehnte. Als hätte ich den Kontakt hergestellt und nicht er, was ziemlich seltsam war. Und obwohl ich wusste, dass es seltsam und aufdringlich war, dass er mich so berührte – auch wenn mehrere Stoffschichten zwischen seiner und meiner Haut lagen –, war es tröstlich. Ich fühlte mich wohl. Ich rang innerlich mit mir; einerseits empfand ich sein Benehmen unnötig und aufdringlich, andererseits sehnte ich mich danach, getröstet zu werden.
    Und dann kam ein Wort aus meinem Mund, als hätte ich es zurückgehalten und ganz plötzlich freigelassen. »Nein«, sagte ich. »Nicht verloren. Ich bin nicht verloren. Ich bin nur …«
    »Wie heißen Sie?«, fragte er.
    »Annabel«, sagte ich. »Und Sie?«
    Seine Hand lag immer noch auf meinem Arm, dann rutschte sie weg. Mein Arm fühlte sich plötzlich kühl an, als wäre ein Luftzug über ihn hinweggefahren. Um uns herum eilten die Menschen mit ihren Einkaufstüten nach Hause, dick eingemummt gegen die kalte Brise, die über den Gehsteig pfiff. Es fühlte sich an, als erwachte ich aus einer Ohnmacht. Ich hörte Geräusche, Menschen redeten, zwei ältere Damen kamen aus einem Friseursalon, lachten und zogen sich durchsichtige Plastikkappen über ihre frisch gestylten Haare.
    »Ed«, sagte er. »Ich heiße Ed.« Er hatte dunkelgrüne Augen. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich je zuvor in die Augen von jemandem gesehen und ihre Farbe bemerkt hätte. Wenn man mich fragen würde, welche Augenfarbe meine Mutter, Kate oder Sam Everett hatten, hätte ich nicht darauf antworten können. Doch diese Augen waren grün.
    »Das klingt falsch«, sagte ich.
    »Wie meinen Sie das?«, fragte er. Sein Tonfall hatte sich verändert – er klang jetzt misstrauisch, skeptisch. Das gefiel mir ganz und gar nicht. Als hätte er mich einem Test unterzogen, und ich hätte ihn nicht bestanden.
    »Das klingt nicht nach Ihrem richtigen Namen«, sagte ich.
    Er lachte und entblößte dabei die Zähne. »Na ja, ich kann Ihnen versichern, dass ich tatsächlich so heiße.«
    »Ed«, sagte ich.
    »Richtig«, antwortete er. »Vergessen Sie das nicht.«
    »Ja«, sagte ich. »Also, ich muss morgen früh wieder hierherkommen.«
    »Ja«, sagte er. »Dann treffen wir uns morgen.«
    »Gut«, sagte ich.
    Ich glaube, er sagte noch mehr. Er sagte noch andere Sachen, an die ich mich aber nicht mehr erinnern kann.
    Ein paar Minuten später, vielleicht war es auch eine Stunde oder ein ganzer Tag, saß ich wieder in meinem Auto auf dem Parkplatz. Der Motor lief, die Heizung ebenso, es war warm, ich blickte durch die Windschutzscheibe in die Dunkelheit, der Parkplatz war jetzt fast leer. Niemand war weit und breit zu sehen. Ich sah auf die Uhr, es war nach sechs. Wann hatte ich das Bestattungsunternehmen verlassen? Mir kam es vor, als sei das erst vor ein paar Sekunden passiert, als wäre ich von dort direkt zum Parkplatz gegangen, hätte mich in meinen Wagen gesetzt, den Motor angelassen und darauf gewartet, dass irgendwas passierte. Ich hatte das Gefühl, als wäre mir die Zeit entglitten.
    »Wirklich seltsam«, sagte ich laut. Ich schien langsam aus tiefem Schlaf zu erwachen. Das war wie im Bett zu liegen, mitten in der Nacht aufzuwachen und festzustellen, dass einem der Arm eingeschlafen war und man warten musste, bis er wieder wach wurde, einem wieder gehörte. Genau so fühlte ich mich. Doch es fühlte sich gleichzeitig auch gut an, wärmend und tröstlich.
    Ich wusste, was mit mir passiert war. Ich war soeben einem Engel begegnet.

 
    Colin
    Heute Nachmittag rief mich Vaughn im Büro an, um mir mitzuteilen, dass Audrey bei ihrer Mutter sei.
    Glücklicherweise fragte ich ihn nicht, warum er davon ausging, dass mich diese Information interessierte. Ich hatte gerade mein Tagespensum erledigt, meine Sachen zusammengepackt und wollte gehen, als er anrief. Ich hatte es eilig, weil ich vor dem College noch zum Co-op musste, also stand ich im Mantel mit dem Telefonhörer in der Hand

Weitere Kostenlose Bücher