Wofür du stirbst
verhältst?
»In Ordnung«, sagte ich.
»Ich schreibe einen Brief an deine Mutter. Ich habe vorhin schon mit ihr telefoniert und sie hergebeten, aber – wie auch immer. Hol deine Sachen, und komm dann noch mal in mein Büro und nimm den Brief mit.«
Ich drehte mich um und wollte gehen.
»Colin?«
»Ja?«
»Tu das nie wieder.«
Und ich tat es nie wieder, jedenfalls nicht auf dem Schulgelände, denn komischerweise mochte ich den Schulleiter. So schwach, wie er wirkte, war er gar nicht; er war ein gut aussehender Mann, der unter widrigen Umständen versuchte, das Richtige zu tun. Ich wollte, dass er mich mochte. Außerdem erholte sich meine Mutter damals gerade langsam von einer Zeit, die sie später immer wieder als »eine große Herausforderung« bezeichnen sollte. Während der Schulleiter offenbar nicht wirklich wütend werden konnte, war das bei meiner Mutter ganz anders.
Meine Mutter hatte ein paar Jahre halbherzig meinem Vater nachgetrauert. So war sie eben. Als ihr schließlich klar wurde, dass die Menschen keine Notiz mehr davon nahmen, beschloss sie, dass es an der Zeit war, sich ein Herz zu fassen und ihr Leben wieder in die eigene Hand zu nehmen. Geduld war noch nie eine ihrer Stärken gewesen, und seit wir nur zu zweit waren, brachte sie noch weniger auf. Ihre Freunde, die Familie meines Vaters, sogar ihre Schwester brachen den Kontakt zu ihr ab, also war ich der Einzige, an dem sie ihren Frust und ihren Zorn auslassen konnte. Sie nahm keine Antidepressiva mehr und therapierte sich fortan zielstrebig mit Alkohol.
Wir hassten einander voller Inbrunst, sprachen es aber nicht aus. Sie schlug mich, bis ihr klar wurde, dass ich langsam groß genug war, um zurückzuschlagen. Daraufhin beschränkte sie sich auf verbale Angriffe, die in vielerlei Hinsicht aber mindestens genauso schmerzhaft waren.
»Du hast deinen Vater umgebracht«, sagte sie eines Abends zu mir. »Weißt du das? Ich habe es immer gewusst. Du hast ihn mit deinen ewigen Widerworten ins Grab gebracht und nie getan, was man von dir verlangte.«
Wir saßen beide im Wohnzimmer, nachdem wir schweigend zu Abend gegessen hatten. Das geschah immer häufiger – Höflichkeit verwandelte sich zunehmend und ohne Vorwarnung in Feindseligkeit. Sie hatte zum Abendessen Wein getrunken, doch davor Gin und noch davor Sherry, und trotzdem war sie nicht wirklich betrunken. Der Fernseher lief im Hintergrund, wir hatten uns nicht auf eine Sendung einigen können, was weiter zur angespannten Stimmung beigetragen hatte. Sie gab mir allein die Schuld am Tod meines Vaters, so wie ich ihr. Das war unser Zeitvertreib.
»Du Dreckskerl, du hast ihn umgebracht. Wir waren so glücklich, bevor du kamst.«
Ich suchte nach einer geeigneten Waffe, um mich zu verteidigen, und entschied mich für Kafka.
» ›Sterben hieße nichts anderes, als ein Nichts dem Nichts hingeben‹ .«
»Schon wieder Kafka?«, sagte sie. »Was für ein Unsinn.«
»Kafka war Nihilist«, sagte ich. »Und aus seiner Sicht ist es völlig irrelevant, ob einer von uns beiden für Vaters Tod verantwortlich ist.«
»Ich wünschte, du wärest nie geboren«, sagte sie abweisend.
»Ich mir auch«, sagte ich.
Manchmal waren unsere Wortwechsel noch lustiger. Es war ja so einfach, ihr die Stirn zu bieten. Je mehr sie mich hasste, desto amüsanter wurde sie. Trotzdem lebten wir auch weiterhin im selben Haus, sogar nachdem ich von der Schule abging. Manchmal machte sie das Abendessen, wenn sie nicht zu betrunken war und noch aufrecht stehen konnte. Ich kümmerte mich hingegen vorwiegend um die Wäsche und den Hausputz. Sie kaufte ein, so konnte sie auch ihren Alkohol besorgen. Wir hatten ein seltsam symbiotisches und dennoch angespanntes Verhältnis, das uns jedoch beiden von Nutzen war.
Ich denke meistens mittwochabends an meine Mutter, und manchmal fragte ich mich, warum das so ist, bis mir klar wurde, dass ich am Mittwochabend natürlich immer niedere Arbeiten wie meinen Hausputz erledige und die Wäsche mache und mich das an unsere gemeinsame Zeit nach dem Tod meines Vaters erinnerte.
Vor einer halben Stunde hat die Frau vom Pflegeheim angerufen. Offensichtlich braucht meine Mutter einen neuen Bademantel und hat sich nach mir erkundigt. Von Letzterem wusste ich, dass es eine Lüge war. Warum wollen sie unbedingt, dass ich komme? Ich habe meiner Mutter nichts zu sagen, und falls sie durch irgendein Wunder bei meinem Besuch doch zurechnungsfähig wäre, stehen die Chancen ziemlich schlecht, dass sie
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