Wofür du stirbst
stand sie zur Hälfte im Licht, und ihr Haar strahlte wie ein orangefarbener Heiligenschein um ihren Kopf. Sie sah sich um und entdeckte mich, dann blickte sie wieder nach vorne.
Offensichtlich wirkte ich weniger bedrohlich auf sie als derjenige vor ihr, denn plötzlich drehte sie sich um und rannte auf mich zu. Ich ärgerte mich, weil ich nicht beiseitetreten wollte, damit sie mit genügend Abstand in der engen Gasse an mir vorbeigehen konnte, und ich wollte auch nicht lächeln oder nicken, wie man es unter solchen Umständen normalerweise tut.
Trotzdem versetzte es mir einen Stoß. Es lässt sich nicht anders beschreiben. Vermutlich lag das noch nicht einmal an ihrem seltsamen Gesichtsausdruck, sondern eher an der Tatsache, dass ich sie zum ersten Mal richtig ansah und sie mich, während sie mit ihren Lippen das Wort HILFE formte.
Sie kam auf mich zu, gefolgt von einem Mädchen aus der Oberstufe, mit dem ich nichts zu tun haben wollte. Ich weiß nicht mal mehr, wie sie hieß. Sie kam auf uns zu, Helen trat hinter mich und blieb einfach stehen, als erwarte sie irgendeine Reaktion von mir. Oder einfach nur, dass sie mich als Puffer gebrauchte und wir dann gemeinsam nach Hause gingen.
Die Situation war wirklich merkwürdig. Ich fühlte mich unwohl. Angst hatte ich keine – so konnte man das nicht bezeichnen.
Mir war es unangenehmer, Helen hinter mir zu wissen, als das Mädchen vor mir, das auf uns beide zukam.
Sie hielt ein Messer in der Hand. Ich weiß noch, dass ich überlegte, wieso sie es herausgeholt hatte. Als würden alle ständig mit Messern herumlaufen, es jedoch sehr unhöflich wäre, es auch noch herumzuzeigen.
»Jetzt versteckst du dich auch noch hinter diesem gruseligen Colin, ja?«, rief das Mädchen. »Glaubst du etwa, dass der dir helfen wird?«
Ich war stehen geblieben, die Beine hüftbreit auseinander. Ich verspürte nun etwas anderes – einen gewissen Reiz. Es war der Gedanke an eine Konfrontation, der ich normalerweise aus dem Weg ging. Unter diesen Umständen jedoch hatte ich die Erlaubnis, mich auf eine bestimmte Art und Weise zu verhalten. Immerhin wurde ich bedroht. Auch wenn das Messer für Helen bestimmt war, war es nun auf mich gerichtet.
»Sei vorsichtig, sie hat ein Messer!«, sagte Helen irgendwo hinter mir.
»Ja, danke, das sehe ich selbst«, antwortete ich.
Mehr als ein Fausthieb war nicht nötig, um sie zu Boden zu strecken. Ich hatte keine Ahnung, dass es so leicht sein würde, denn hätte ich es gewusst, hätte ich es bestimmt länger ausgekostet. Ich glaube, sie rechnete nicht damit, dass ich sie schlagen würde. Man schlug einfach keine Mädchen, auch wenn sie mit einem Messer in der Hand auf einen zu kamen. Vermutlich war sie nicht davon ausgegangen, dass ausgerechnet ich ihr Probleme bereiten würde.
Helen quiekte überrascht hinter mir.
Wer immer das Mädchen war, es lag nun im Dreck an einer Ziegelwand, die irgendeinen Garten begrenzte. Irgendwo in der Nähe bellte ein Hund. Das Mädchen rührte sich nicht. Ich wandte mich zu Helen um. Sie atmete heftig, ihre Brust hob und senkte sich, ihr Mund stand weit offen vor Schock. Zu meiner Überraschung konnte ich im Licht der Straßenlaterne Tränen auf ihren Wangen sehen. »Was gibt’s denn da zu weinen?«, hätte ich beinahe gefragt.
Doch sie schaute einfach nur das Mädchen und dann mich an und lief nach Hause. Ihre Schritte wurden immer schneller und schneller, bis sie irgendwann aus Leibeskräften rannte.
Ich sah auf die bleichen Beine des Mädchens auf dem Boden hinab. Sie rührte sich, machte irgendein Geräusch, als wäre sie erschöpft oder aus der Puste und würde nach Luft schnappen. Das Messer lag auf dem schmutzigen Asphalt an der Stelle, an der sie es fallen gelassen hatte.
Vor mir taten sich nun viele Möglichkeiten auf, sehr viele. Ich hätte jede ergreifen können, aber das hätte mein Leben unweigerlich verändert, und damals war ich noch nicht bereit dafür. Ich denke oft an jenen Abend zurück, als es früh dunkel wurde, der Winter vor der Tür stand, die Luft kühl, aber noch nicht bitterkalt war, an den Widerhall von Helens Schritten in der Gasse und den Anblick des Mädchens, das mit gespreizten Beinen und dem Kopf an der Ziegelwand mit dem Gesicht in Glassplittern, Abfällen und Hundescheiße auf dem Wegrand dalag.
Also trat ich sie. Ich schaute gar nicht, wo mein Tritt landete, jedenfalls war es nur einmal, und ich trat sie auch nur deshalb, weil ich nachprüfen wollte, dass sie noch am
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