Wofür es sich zu leben lohnt
wenn in Pier Paolo Pasolinis gleichnamigem Film von 1975 die Herren ihre Opfer zwingen, Exkremente zu verzehren. Aber man darf nicht übersehen, dass Pasolini keine Verfilmung unternommen hat; seine Protagonisten sind vielmehr Faschisten, die in Kenntnis des Romans diesen für ihre eigenen Verhältnisse adaptieren. Darum bleibt ihnen etwas fremd, was für die Sade’schen Libertins von zentraler Bedeutung ist: nämlich deren eigene Lust am Verzehr von Kot:
»Herr Präsident, Sie sind steif«, sagte der Herzog; »Ihre Reden bringen immer solche Anzeichen bei Ihnen hervor.« – »Steif?«, sagte der Präsident, »nein; aber ich bin im Begriffe, Fräulein Sophie scheißen zu lassen, und ich hoffe, daß ihr köstlicher Dreck vielleicht einige Wirkung bei mir hervorrufen wird. – Ah, wahrhaftig, mehr als ich dachte!«, rief Curval, nachdem er die Würste verschlungen hatte »bei Gott, auf den ich scheiße, mein Schweif fängt an, zu Bewußtsein zu kommen.« (de Sade 1979 , Teil 2 : 181 )
Dass die Herren selber Exkremente verspeisen, und dies nicht, wie Greenblatts Indianer, aus Protest gegen ihre Inferiorität, sondern im Gegenteil mit dem Gefühl herrschaftlichster Autonomie, mag uns ähnlich rätselhaft erscheinen wie ihren faschistischen Imitatoren. Aber das zeigt lediglich, dass das für die Epoche der Aufklärung zentrale Thema der Autonomie für die Faschisten (und vielleicht auch für unsere Epoche) eben keine Rolle spielt. Für Sades Libertins hingegen ist es entscheidend: Sie sind in hohem Maß daran interessiert, ihr sexuelles Wohlgefallen derart zu kultivieren, dass es größtmögliche Unabhängigkeit von seinem Gegenstand erreicht. Nur dadurch können sie autonom sein; andernfalls wären sie in ihren eigenen Augen Sklaven ihrer Objekte. So benötigen sie vorzugsweise solche Gegenstände, die völlig klarstellen, »daß es nicht das Objekt der Ausschweifung ist, das uns reizt, sondern die Idee des Bösen« (Sade 1979 , Teil I: 214 ). Das Exkrement eignet sich dafür wie kaum etwas anderes. Darum seine Prominenz in Sades Roman.
Man muss darum Sade nicht allein, wie Jacques Lacan es vorgeführt hat, auf der Ebene der Ethik parallel mit Kant lesen (s. Lacan [ 1963 ]), sondern auch auf der der Ästhetik. Auch in Kants Ästhetik des Erhabenen geht es schließlich darum, dass keinerlei Anlässe vom Objekt ausgehen; vielmehr ist nur ein absolut uninspirierendes Objekt geeignet, zu beweisen, dass man als Beobachter selbst Träger der für das Wohlgefallen maßgebenden Ideen ist:
»So kann der weite, durch Stürme empörte Ozean nicht erhaben genannt werden. Sein Anblick ist gräßlich; und man muß das Gemüt schon mit mancherlei Ideen angefüllt haben, wenn es durch eine solche Anschauung zu einem Gefühl gestimmt werden soll, welches selbst erhaben ist […]« (Kant [ 1790 ]: 166 , § 23 ).
Das Wohlgefallen, das Kant hier im Auge hat, ist offensichtlich eines, das sich in erster Linie an der Ideenfülle des »eigenen Gemüts« entzündet, und nicht an den Qualitäten des Gegenstandes. Kants »empörter Ozean« ist darum das präzise Gegenstück zum Exkrement der Sade’schen Wüstlinge.
3 . Thanatophagie
Wenn es eine getreue Verfilmung von Sades Roman gibt, dann ist es viel mehr als Pasolinis Film von 1975 (der keine zu sein beansprucht) ein anderer, der allerdings interessanterweise ohne jede Gewalt auskommt: Marco Ferreris »Großes Fressen« (»La grande bouffe«) von 1973 . Vier Männer ziehen sich in eine Villa zurück, um dort, wie man allmählich zu verstehen beginnt, mit einem Übergenuss von köstlichen Speisen ihrem Leben ein Ende zu setzen. Vier Freunde; ein einsamer Ort, den aufgrund von Schneefällen niemand verlassen kann; einige erfahrene Frauen; eine Schar von Kindern; erotische Erzählungen; köstliche Speisen – es gibt zahlreiche überraschende Übereinstimmungen im Detail mit den » 120 Tagen«, und natürlich das hervorstechende Zentralmerkmal einer gigantischen, durch zuvor vereinbarte, präzise Regeln bestimmten Ausschweifung.
Diese zur Pflicht erhobene Orgie hat mit der von Sades Libertins einen entscheidenden Zug gemeinsam. Es ist jener, den Kant selbst für unmöglich hielt und den Lacan, im Gegensatz dazu, als die Übereinstimmung zwischen der Sade’schen und der Kant’schen Pflichtethik markierte (s. Lacan [ 1963 ]): Während Kant der Auffassung war, dass keine sinnliche Neigung stark genug wäre, der Drohung durch den Galgen standzuhalten, wohingegen das sittliche
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