Wofür es sich zu leben lohnt
Pflichtgefühl dies vermöge (s. Kant [ 1788 ]: 140 ), zeigte Lacan, dass gerade die Sade’schen Wüstlinge ihre Passionen mit einer Entschlossenheit betreiben, die durch Todesgefahr keineswegs eingeschüchtert – sondern vielleicht sogar erst recht angespornt – wird. Ihre bösartige, den Neigungen gewidmete Pflicht ist genauso todesresistent wie die von Kant untersuchte (und von ihm vielleicht vorschnell als gut bestimmte).
Auch die weniger verbissenen Genießer bei Ferreri sehen dem Tod ins Auge. »Wenn du nicht isst, dann stirbst du nicht«, sagt einer der Helden zum anderen aufmunternd und füttert ihn mit Püree. So bizarr uns auch diese Überschreitung anmutet, können wir ihren Sinn doch heute vielleicht sehr gut erahnen. Auch hier erweist sich die finstere Kehrseite der Regeln wieder als eine Stütze. Denn dem Tod ins Auge sehen zu können ist eine entscheidende Voraussetzung, um zu leben. Jene Biopolitiken, die gegenwärtig, unter dem Vorwand, das Leben zu schützen, jeglichen Genuss als gesundheitsschädigend dämonisieren und verbieten, machen schon dieses Leben selbst zum Tod; zu einer Art von vorzeitiger Leichenstarre. Ebenso möchte man sich auf manchen Flughäfen, wo unbescholtene Passagiere ihre Schuhe ausziehen und ihre Gürtel abgeben müssen, so dass ihnen Röcke und Hosen hinunterrutschen, die Frage stellen, ob es nicht besser ist, einmal gebombt, als tausendmal erniedrigt zu werden. Das Obszöne ist hier nicht die Überschreitung der symbolischen Ordnung; es ist vielmehr diese beflissene, jegliche Überschreitung verhindernde Art des Regelbewahrens selbst. Die Helden Ferreris hingegen zeigen gerade in ihrer tödlichen kulinarischen Unternehmung ihre Liebe zum Leben. Der Maxime des Juvenal entsprechend, [175] vergegenwärtigen sie sich die Gründe, für die es sich zu leben lohnt. Wenn diese ihnen hinreichend präsent sind, dann sind sie sogar bereit, dafür ihr Leben zu geben.
Literaturverzeichnis
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2010 Materialismus der Begegnung. Hrsg. und übers. von Franziska Schottmann.
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