Wofür es sich zu leben lohnt
Selbstzuschreibung einer Auseinandersetzung mit den europäischen Kolonisatoren – und zwar in einer eigentümlichen Dialektik: Indem sie sich selbst zu Kannibalen erklären, versuchen die Kolonisierten den Kolonisatoren zu zeigen, dass sie eben keine sind.
Anders als postmoderne identitätspolitische Initiativen, die sich zu befreien versuchen, indem sie sich nur noch vom Eigenen ernähren, fressen de Andrades gebildete Kannibalen nur das Fremde. Darum haben Menschen und Kannibalen in diesem Text dasselbe Gesetz. Genau darin zeigt sich nämlich das Menschliche der Kannibalen – als Allgemeines, nicht auf die eigene Identität Erpichtes. Zugleich erweist es sich als Humanes: Denn diese selbsterklärten Kannibalen sind das genaue Gegenteil jener Charaktere, die – in einem von Slavoj Žižek kommentierten Witz – erklären, in ihrer Gegend gäbe es keine Kannibalen; die letzten habe man schon vor Monaten gefressen (s. Žižek 1991 : 92 ). Nur der Kannibale, im Gegensatz zum Nichtkannibalen, gewährleistet Nichtausrottung.
2 . Koprophagie
Ähnlich wie de Andrades Kannibalen operieren andere, unseren Tischsitten ebenfalls recht fernstehende Akteure. Stephen Greenblatt hat in seiner Studie »Schmutzige Riten« das Beispiel eines indianischen Geheimordens zitiert, deren Mitglieder 1881 ihrem weißen Ehrengast, einem anthropologisch interessierten US -Kavallerieoffizier, ein beispielloses Spektakel boten, das in gewissen Zügen an eine christliche Messe erinnerte und in dessen Verlauf sie, unter maßloser Erheiterung, auch bis zum Verzehr von Urin, wenn nicht gar von Exkrementen, gelangten. Greenblatt zeigt anhand zahlreicher Beispiele, dass diese vermeintliche »nostalgie de merde« eine charakteristische, in vielen Kulturen aufgetretene (und bereits im Alten Testament festgehaltene) Protestgeste von Unterdrückten gegenüber ihren Unterdrückern darstellt. Allerdings trägt dieser Protest immer Züge dessen, was man in der Psychoanalyse als »Gegenübertragung« bezeichnet (s. dazu Signer 1997 ): »Wenn du mich für einen Wilden hältst, dann werde ich dir mal einen richtigen Wilden vorspielen, so dass du staunst«, scheint diese Geste trotzig zu sagen. Daraus ergibt sich ihr von Greenblatt treffend erkannter, ambivalenter Wert:
»Auch wenn das Schmutzige symbolisch auf die Weißen zeigt, sind es die Indianer, die es verschlingen. Die beleidigende Geste ist gleichzeitig eine Anerkennung der eigenen Niederlage, denn der satirische Humor der Unterdrückten, wie treffend er auch sein mag, setzt immer den Unterdrückungszustand als gegeben voraus.« (Greenblatt 1995 : 36 )
Für diesen schmutzig-rituellen Protest gilt also, was Karl Marx allgemein über die Ambivalenz der Religion festgestellt hat: »Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend.« (Marx [ 1844 ]: 17 )
Da die Kunst in der modernen westlichen Kultur einer der prominentesten Austragungsorte gesellschaftlicher Gegenübertragungen ist, haben sich solche »skatologischen Riten« hier in vergangenen Jahrzehnten vor allem auf diesem Terrain gezeigt: etwa in bestimmten künstlerischen Performances des Wiener Aktionismus, zum Beispiel der Aktion »Kunst und Revolution« im Hörsaal 1 der Wiener Universität vom Juni 1968 , [173] oder in Mike Kelleys Arbeit »A Nostalgic Depiction of the Innocence of Childhood« ( 1990 ). [174] Auch in der Popkultur treten solche Phänomene auf – etwa, wenn Hip-Hopper Sachen singen, die wir nicht hören oder gar in den Mund nehmen möchten. Das gutbürgerliche Feuilleton gibt sich dann ratlos bis entsetzt (s. Radisch 2007 ); es vergisst aber dabei die Gegenübertragung – das heißt: den Faktor des eigenen Blicks. Genau dieser war es ja, dem man das Spektakel bieten und den man dadurch auch fernhalten wollte. Schließlich müssen Jugendliche, wie bereits oben ausgeführt wurde, etwas unternehmen, um zu verhindern, dass ihre Eltern dieselben Konzerte besuchen. Auch hier zeigt sich die Überschreitung wieder als zivilisierende Kraft: als eine Macht des Fernhaltens und der Vermeidung von erstickender Nähe und intimem bzw. inzestuösem Verständnis.
Freilich sind es nicht immer nur die Unterdrückten oder Bedrängten, die sich mit Leidenschaft dem Exkrementellen nähern. Ein beträchtlicher Teil von D. A. F. de Sades Roman »Die 120 Tage von Sodom« ist dieser Passion gewidmet. Es scheint auch auf den ersten Blick ins Bild zu passen,
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