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Wofür es sich zu leben lohnt

Wofür es sich zu leben lohnt

Titel: Wofür es sich zu leben lohnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Pfaller
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Ordnung wandern lässt, erhebt man das nahrhafte oder schmackhafte Objekt zum sublimen »Ding« (s. Lacan [ 1959 – 60 ]: 138 ). Man vollzieht damit den – nach psychoanalytischer Auffassung für die Kunstproduktion charakteristischen – Vorgang der Sublimierung.
    1 . Anthropophagie
    Dem Anthropologen William Robertson Smith folgend, erkannte Sigmund Freud, dass jene rituellen Mahlzeiten, in denen totemistische Gesellschaften ihr sonst für den Verzehr untersagtes Totemtier feierlich verspeisen, keine Opferhandlung an einen Gott darstellen, sondern vielmehr die Wiederholung eines früheren Verbrechens: Das Totemtier, das von den Clanmitgliedern als Verwandter betrachtet wird, nimmt darin den Platz des einstigen Urvaters ein. Ihn haben die vereinten Brüder, nach Freuds kühner Konstruktion, einst in einer Revolte getötet und gemeinsam verzehrt (s. Freud [ 1912 – 13 ]: 426 ). Durch dieses Urverbrechen und seine regelmäßige symbolische Wiederholung wird allerdings von da an immerhin das Inzestverbot des Clans etabliert und sichergestellt: Niemand darf nun mehr den Platz des Urvaters einnehmen und über die weiblichen Angehörigen sexuell verfügen. So phantastisch Freuds Spekulation anmuten mag, so lehrreich erscheint doch der darin aufgestellte notwendige Zusammenhang zwischen dem Überschreitungsgebot (man muss »kannibalistisch« vom verbotenen, sozusagen verwandten Tier essen) und dem dadurch gesicherten Inzestverbot. Von diesem Zusammenhang ausgehend, erscheint es wenig erstaunlich, dass heutige westliche Gesellschaften, die ihre eigenen, noch vor kurzem gültigen Überschreitungsgebote (z.B. des feierlichen Alkohol- oder Tabakgenusses) nunmehr vorwiegend mit Unverständnis betrachten und durch Verbote ersetzen, auch zunehmend inzestuöser werden – und zwar nicht so sehr auf der Ebene realer Verbrechen, sondern insbesondere, was die Faszination durch diese betrifft (s. dazu Berkel 2006 ). Wenn wir uneingestanden vom Inzest fasziniert sind, dann beginnen wir alles, was die Wahrung eines Gesetzes und die damit verbundene Zivilisiertheit verspricht, als bodenlos autoritäre, ja sogar inzestuöse Geste zu diffamieren: Alle Männer oder Frauen, die nun eine Vaterfunktion einnehmen, erscheinen uns jetzt als Urväter; und zwar insbesondere dann, wenn sie gerade das Gegenteil tun und – zum Beispiel rauchend, trinkend oder sonstwie mondän – den Überschreitungsgeboten der symbolischen Ordnung folgen.
    Dieser Zusammenhang zeigt sich auch in der Kunst. Wenn dort einmal die menschliche Sprache, anders als in der psychoanalytischen Theorie, nicht als Medium eines unpersönlichen Gesetzes betrachtet wird, sondern vielmehr als Mittel zur Herstellung einer unerträglichen zwischenmenschlichen Nähe, dann kann sogar rohe Gewalt oder bloßes kannibalisches Aufgefressenwerden als Befreiung, ja sogar als zivilisierter Akt begriffen werden – insofern Zivilisiertheit, wie Richard Sennett feststellte, eben darin besteht, andere nicht »mit dem eigenen Selbst zu belasten« (Sennett [ 1974 ]: 336 ). So konnte Oswald Wiener schreiben:
    »und wie schön ist erst die welt, wenn jeder seine dreckschleuder dem spucken aufhebt; wenn da der feind steht und ich muss ihn nicht beschreiben und nicht hassen sondern töten oder anders getötet werden. und der feind will meine frau vögeln oder mein fleisch fressen oder einfach meine knochen brechen und nichts weiter, jedenfalls nicht einen eindruck machen.
    in solchen sachen sind wir jung und kräftig und stossen zu und töten ohne applaus. und deine sprache kann mir nicht den krebs erregen ich werde sterben weil ich schlicht und ohne zorn getötet werde weil ich im weg stehe und weil ich nahrhaft bin.« (Wiener [ 1969 ]: LXII )
    Die Überschreitung der nackten, kannibalischen Gewalttat verunmöglicht hier das als inzestuös Empfundene des gegenseitigen Beschreibens, Hassens oder des Applauses – und dies wird als beträchtlicher Vorteil erlebt; sogar, wenn man selbst Opfer oder Futter sein sollte. Ähnlich positiv bezieht sich auch eine andere künstlerische Avantgardeformation auf den Verzehr von Mitmenschen, diesmal jedoch vordergründig nicht als Gefressene, sondern als Fresser: die brasilianische Gruppe rund um den Verfasser des 1928 veröffentlichten »Manifesto antropofago«, Oswaldo de Andrade. Darin heißt es: »I am only interested in what’s not mine. The law of men. The law of the cannibal.« (Andrade 1928 )
    Klarerweise verdankt sich diese Parteinahme oder

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