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Wofür es sich zu leben lohnt

Wofür es sich zu leben lohnt

Titel: Wofür es sich zu leben lohnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Pfaller
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verschwenden. Euch und uns wird dann, anders als jetzt, der schöne Glamour der Großzügigkeit umstrahlen.

15 . Die finstere Seite der Tischmanieren
    Schon in den vertrautesten Bereichen des Alltagslebens zeigt sich an gewissen, mehr oder weniger deutlichen Anzeichen, dass die Nahrung, so einfach sie auch sein mag, um einem biologischen Bedürfnis zu entsprechen, immer von einem komplexen System von Regeln umgeben ist, die einem Erfordernis der Kultur gehorchen: Es gibt bestimmte Zeiten, zu denen gegessen wird; man muss essen, was auf den Tisch kommt; man soll mit vollem Mund nicht sprechen; man darf beim Essen nicht stören etc.
    Dieses Gitter von Regeln der symbolischen Ordnung besitzt jedoch, wie die Kulturtheoretiker bemerkt haben, [171] immer auch eine Kehrseite: Auf der anderen Seite jener Manieren, mit denen wir uns selbst von der Barbarei fernzuhalten versuchen, lauert allerdings seltsamerweise nicht die Anarchie, sondern ein Ensemble von ebenfalls strengen, aber einigermaßen bizarren Regeln. Es sind nämlich gerade Regeln der Überschreitung jener ersten, manierlichen Regeln. Schon im Alltagsleben treffen wir solche Regeln der Überschreitung an, auch wenn sie sich da vielleicht noch einigermaßen harmlos ausnehmen: Wenn die Regeln der Diät (etwa die vom Hausarzt erlassenen) zum Beispiel besagen, dass man nichts Süßes essen soll, dann muss man umgekehrt, wenn eine Kollegin Geburtstag hat, diese Regel übertreten und wenigstens die zum Feiern nötige Menge eines Tortenstücks gemeinsam mit den anderen Firmenangehörigen verzehren. Wenn man in der Regel arbeiten soll, dann muss man gemäß der Kehrseite der Regel das Arbeiten bleibenlassen und feiern, wenn eine Festlichkeit oder ein Feiertag ansteht. Und wenn man in der Regel sparsam und maßvoll sein soll, dann gebietet es die Überschreitungsregel der festlichen Großzügigkeit, den teuren Champagner maßlos, »in Strömen« fließen zu lassen (s. Bataille 1986 : 201 ).
    Durch solche kehrseitigen Regeln wird es auch oft vorgeschrieben, etwas zu essen, was sonst (nach den manierlichen Regeln sowie dem allgemeinen sittlichen Empfinden) auf keinen Fall verspeist werden darf: zum Beispiel andere Menschen, Exkremente, das eigene Leben. Auf der finsteren Seite der rituellen Regelungen der Nahrungsaufnahme finden wir darum Anthropophagie, Koprophagie und Formen des absichtlichen Sich-Zutodeessens, sozusagen Thanatophagie.
    Vielleicht lässt sich das Gewöhnliche und Normale nicht immer ausgehend vom Bizarren am besten erkennen; die Überschreitungsregeln der Esskultur sind jedoch hier zumindest aus drei Gründen relevant. Erstens bilden sie, so unappetitlich sie auch anmuten mögen, oft die unerlässlichen Stützen sozialer und sittlicher Ordnung: Wenn man sie beseitigt, dann zerstört man die Grundlagen des geordneten, vermeintlich zivilisierten Lebens. So hat, wie Slavoj Žižek zeigte, der humane Kapitän Bligh wohl die Fundamente seiner eigenen legalen Autorität untergraben, als er die traditionellen, illegalen Bestrafungs- und Initiationsriten unter den Seeleuten der »Bounty« verbot (s. Žižek 1995 ). Auf der finsteren Seite der Tischsitten finden wir darum regelmäßig feierliche Gemeinschaftsmahlzeiten, »Kommunionen« (s. Smith 1899 : 13 ), die für das Zusammenleben der Gruppe und die Aufrechterhaltung ihrer Regeln notwendig sind.
    Zweitens sind die Überschreitungen, so barbarisch sie als Verletzungen zivilisierter Regeln auch erscheinen mögen, immer Akte, die aus einer Art von ethischem Pflichtgefühl, und nicht aus bloßer unkultivierter Neigung, begangen werden. Darum müssen sie, drittens, in ästhetischer Hinsicht als Akte begriffen werden, die, sofern sie überhaupt ein Wohlgefallen erzeugen können, dies jedenfalls »gegen das Interesse der Sinne« tun: Sie gehören darum, gemäß der von Immanuel Kant getroffenen Einteilung, in das Gebiet der Ästhetik des Erhabenen. Insofern man die gesamte moderne Kunst, aufgrund des von ihr regelmäßig vollzogenen Bruchs mit dem sogenannten guten Geschmack, der Ästhetik des Erhabenen (Sublimen) zugeordnet hat, [172] kann man darum gerade an der Kehrseite der Tischmanieren jene Figuren finden, durch die eine künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema der Nahrung über das interessierte Wohlgefallen einer bloß angenehmen oder dekorativen Kulinarik hinausgeht und zur Kunst wird. Oder, in den Worten Jacques Lacans formuliert: Indem man die Nahrung auf die andere Seite des Gitters der symbolischen

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