Wofür stehst Du?
vierzig Jahren, ein Exemplar der Schülerzeitung, an der ich damals beteiligt war. Sie hieß Purple, warum? Weil der Mitschüler, mit dem ich sie machte, es so wollte. Mir war es egal, und vielleicht war ich auch zu feige, mit ihm darüber zu streiten, ich hatte einfach Angst, er würde mich nicht mehr mitmachen lassen.
Ich schrieb zum Beispiel einen gründlich recherchierten, sehr nüchternen und sachlichen Artikel über den Flächennutzungsplan der Stadt Braunschweig, stellte den Lesern die bei Suhrkamp erschienenen Stilübungen Raymond Queneaus über den Autobus der Linie S vor und erregte mich über die Gründung einer »Initiativgruppe zum Aufbau eines KommunistischenOberschülerbundes«, der, wie es im Gründungspamphlet hieß, »die Arbeit unter der Arbeiterklasse im Braunschweiger Raum aufgenommen« habe.
Ich schrieb, in geradezu rührendem Ernst: »Fragt man nach ihren Vorstellungen, wird einem Marx unter die Nase gehalten. Da steht ja alles. Das wird ohne eigenes Denken nachgebetet. So gesehen, stellen sich die Flugblätter dieser Leute als reine Selbstbefriedigung dar. Sie können und wollen nicht begreifen, dass sich diese Gesellschaft auch friedlich verändern lässt, dass Marx sich in manchen Dingen geirrt hat und dass sich seine Theorien nicht so ohne weiteres auf die heutige Zeit übertragen lassen. Trotzdem sollte man solche Gruppen nicht einfach verbieten, man kann sich mit ihnen auch so auseinandersetzen.«
Das war 1972. Ich war 16. Morgens um halb acht standen wir vor Braunschweiger Gymnasien und verteilten unser Blatt.
Auf der einen Seite fand ich die Älteren in der Schule faszinierend: je radikaler, umso besser. Sie strahlten jene Entschlossenheit, Klarheit, Eindeutigkeit aus, nach der ich mich mit fünfzehn, sechzehn Jahren sehnte. Sie wussten, wie man eine Schülerzeitung macht und die Schülermitverwaltung aufrollt, was es mit der Kritik der Politischen Ökonomie von Karl Marx auf sich hat und warum Kapitalismus und Angst notwendig zusammengehören, wie es in einem vulgärmarxistischen Psycho-Werk dieser Zeit hieß.
Auf der anderen Seite fühlte ich mich nie ganz angenommen, wie überhaupt mein stärkstes Gefühl jener Jahre war: nicht dazuzugehören. Ich schrieb mir das immer selbst zu, es löste ein dauerhaftes Schuldgefühl aus. War ich zu bürgerlich, um von den Genossen akzeptiert zu werden?
Als ich auseinem langen Osterurlaub in Italien zurückkam, in dem ich mir die Haare hatte kürzer schneiden lassen und eine Röhrenjeans von Fiorucci angeschafft hatte, wurde ich von meinen Genossen umzingelt und beschimpft: »Geh doch in die CDU!« Und dann hatten sie noch eine schreckliche Schmähung parat: »Bürger! Bürger!«
Zu allem Unglück verliebte ich mich kurz darauf auch noch in ein sehr blondes Mädchen aus dem Parallelkurs, das abends in einer Diskothek jobbte. Da war es um meine Glaubwürdigkeit endgültig geschehen.
Was aus diesen Genossen geworden ist, weiß ich nicht. Nur einen von ihnen habe ich zehn Jahre später wieder getroffen, als ich für die Süddeutsche Zeitung eine Geschichte über Autonome recherchierte, zu denen er sich zählte. Kurz darauf starb er. Es hieß, er habe seit Jahren ein Alkoholproblem gehabt. Ich erinnere mich, dass er der Sensibelste und Intelligenteste von allen war.
Aber was doch am meisten irritierend war: dass ich mich in bizarrer Rollenumkehrung wiederum jener Verbotskultur der deutschen Lehrer und Hausmeister gegenübersah, gegen die wir eigentlich angetreten waren. Wir hassten doch die Pauker, die uns wegen unserer langen Haare immer wieder daran erinnerten, dass es Friseure gab!Wir verachteten die Hauswarte, die uns wegschickten, wenn wir irgendwo auf dem Rasen lagen und Lambrusco aus großen Flaschen tranken. Und nun waren es linke Schüler, die einen hänselten, wenn man zu moderne Klamotten oder zu schicke Frisuren trug. Es waren linke Kritiker, die einem vieles schlechtredeten, was Spaß machte. Und es waren – viel später – oft die profiliert Linken in den Redaktionen, die es am liebsten verhindert hätten, dass man bestimmte Probleme thematisierte, etwa die Kriminalität von Ausländern oder den Missbrauch sozialer Leistungen. Wenn man diese Themen dennoch aufgriff, wurde man gleich in die rechte Ecke gestellt, zumindest aber beschuldigt, das Geschäft der Gegenseite zu betreiben.
Ich kenne auch eine Redaktion in Hamburg, in der es bis vor einigen Jahren unter Frauen noch verpönt war, Schmuck, Schuhe mit hohen Absätzen oder
Weitere Kostenlose Bücher