Wofuer wir kaempfen
Blick für die Strecke und kann vorausschauend fahren. Ich versuche, jede Überraschung, jede Unebenheit, jeden Kiesel im Weg vorher zu erfassen und zu neutralisieren. So haben wir auch als Personenschützer in Afghanistan gearbeitet: Gefahrenquellen vorzeitig erfassen und ausschalten. Beim Rennen droht nur die Gefahr eines Sturzes, in Afghanistan war jede Unachtsamkeit lebensgefährlich. Das schärft die Sinne. Und daher ist mir die Geländewahrnehmung in Fleisch und Blut übergegangen. Gleich vom Start weg ging es erstmal 600 Höhenmeter in den Schwarzwald hinauf. Ich bin ja vorher nie 60 Kilometer Cross im Wettkampf gefahren mit meiner Behinderung. Das bringt schon völlig gesunde Fahrer an ihre Leistungsgrenzen. Aber ich habe gemerkt, es funktioniert. Der vierte Tag, haben mir alle gesagt, sei der schlimmste – da haben
alle einen Durchhänger und würden am liebsten aufhören. Ich war extrem gespannt – was würde bei mir passieren? Werde ich durchhalten, macht der Stumpf das mit? Werde ich Probleme mit der Motivation haben? Und was war? Nix! Ich bin jeden Tag in der Früh wieder an den Start und habe gesagt, geil, lass es endlich losgehen. Ich habe gemerkt, dass ich gut mitfahren kann. Ich war der einzige Fahrer mit Behinderung und bin nicht als letzter durchs Ziel, sondern lag gut im Mittelfeld. Von allen Seiten kam Anerkennung. Das hat mich regelrecht euphorisch gemacht. Es war vor allem ein Sieg für meinen Vater Frieder, der mich das ganze Rennen über begleitet hat und die Wartung meines Fahrrads übernommen hatte – wie damals, als ich meine ersten Crossrennen für den SV Adelsberg in Karl-Marx-Stadt, DDR, gefahren bin. Für ihn war der Anschlag erst mit dem Moment abgeschlossen, als ich nach diesem schwierigen Rennen im Ziel angekommen bin. Er hat geweint vor Stolz und vor Glück, dass ›sein Tino‹ trotz Behinderung ein Rennen gemeistert hat, an dem viele gesunde Sportler gescheitert wären. Der Riss, der sich seit dem Anschlag zwischen seinen Erinnerungen an meine Kindheit, seinen Hoffnungen an meine Zukunft und seinen Ängsten und Sorgen aufgetan hatte, als er mich zum ersten Mal in jener Nacht im Koma gesehen hatte, war wieder gekittet. Für meinen Vater war ich im Moment des Zieldurchlaufs wieder hergestellt, er würde sich in Zukunft keine Sorgen mehr um mich machen. Ich bin ein absoluter Wettkampftyp, und das Ziel ist immer dasselbe: Sich nicht das Leben und die Freude an ihm nehmen lassen, sondern es ausschöpfen und die eigenen Grenzen erfahren. Wenn man so eine Krise wie ich erlebt hat, dann hat es einen ganz besonderen Wert, das Leben nicht einfach laufen zu lassen, sondern es gestalten zu wollen. Der Sport verlangt Antje und mir viele Opfer ab. Wir machen kaum Urlaub und verzichten auf vieles. Aber das macht uns beiden nichts. Wenn man erlebt hat,
wie schnell das Leben von einer Sekunde auf die andere vorbei sein kann, dann verschiebt sich das Sicherheitsdenken. Hier noch was sparen, da ein Bausparvertrag und noch eine Rentenversicherung und hier eine Lebensversicherung … Was soll ich 10 000 Euro auf dem Konto ansparen, wenn wir dafür aufs Skifahren verzichten müssen, wenn die Sonne scheint? Lieber geben wir heute das Geld aus und machen das jetzt und warten nicht, bis wir alt werden. Wir leben hier und jetzt, nicht gestern und nicht morgen. Heute kann ich viele Dinge erreichen, die ich morgen vielleicht nicht mehr schaffen werde. Olympia 2012 ist mein Ziel, also investiere ich jetzt Zeit in mein Training und Geld in meine Ausrüstung. Was danach kommt, ob ich scheitere oder siege, werde ich sehen. Ich mache mir weder Sorgen noch irgendwelche Gedanken, was danach sein könnte. Eine Frage wird mir immer wieder gestellt: Wie sehr mich der Anblick des Attentäters, kurz bevor er die Bombe zündete, heute noch quält. Ich versuche, nie an diesen Augenblick zu denken. Das gelingt mir gut, weil ich zu keinem Zeitpunkt wirklich Hass auf diesen Menschen gespürt habe. Ich kam nach Afghanistan, um zu helfen, ich habe dort nie meine Waffe gezogen und auf irgendeinen Menschen geschossen – der Attentäter kam, um mich zu töten, obwohl er mich überhaupt nicht kannte. Ich komme zu keinem Schluss, wenn ich versuche, mich mit seinen möglichen Motiven zu beschäftigen, zu widersinnig erscheinen sie mir – also lasse ich das. Ich habe irgendwann beschlossen, dass dieser Mensch, weil er ohnehin tot ist und keinen weiteren Schaden anrichten kann, keine Rolle mehr in meinem Leben spielen wird. Er
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