Wogen der Liebe
Ein Blick auf den Ruderer neben ihr ließ sie den Plan gleich wieder vergessen. Außerdem besaß sie kein Messer mehr. Das steckte im Gürtel des Wikingers.
Sie segelten immer in Sichtweite der Küste in Richtung Osten. Viviane, die noch niemals ihr Dorf verlassen hatte, überkam eine heftige Angst. Die Welt war so schrecklich groß, das Meer so weit und das Ufer so fern. Ob ihr Bruder Angus auch diese Angst verspürt hatte, als er auf das Meer hinausgefahren war? Sie stellte sich den Sturm vor, die dunklen, hohen Wellen, die sein Boot herumwarfen wie eine Nussschale. Eine dieser schrecklichen Wellen hatte ihn über Bord geschleudert. Das Meer gab, aber es nahm sich auch seinen Lohn dafür. Viviane schauderte. Sie liebte das Feuer, seine Wärme, seine Kraft. Feuer spendete Leben, Feuer ließ Eisen glühen, Feuer garte das Essen. Ihr Magen knurrte, und sie durfte gar nicht daran denken, dass sie stolz und trotzig das Stück gebratenen Hammel abgelehnt hatte. Wie gern würde sie jetzt in ein Stück saftiges Fleisch beißen! Aber dass sie vor den Augen dieses grausamen Eroberers ihre Würde bewahrt hatte, machte sie noch stolzer. Sie würde sich vor ihm nicht erniedrigen.
Doch der Anführer der Wikinger schien sie nicht mehr zu beachten. Mit harschem Ton erteilte er Befehle, ließ das Segel straffen, so dass es sich noch mehr blähte. Der schlanke Mast musste aus einem besonderen Holz gemacht sein, dass er nicht brach, sondern elastisch wie ein Bogen nachgab.
Auch die Mannschaft war den Unbilden der Natur schutzlos ausgeliefert. Ab und zu schäumte die Gischt der Wellenkämme über die flache Bordwand. Obwohl das Boot mit so vielen Menschen besetzt war, hatte es kaum Tiefgang. Das war auch der Grund, warum die Wikinger so nahe an die Ufer heranfahren konnten.
Die Kälte kroch durch Vivianes dünnen Kittel. Sie zitterte, ihre Zähne schlugen klappernd aufeinander. Sie krümmte sich noch mehr zusammen und schloss ganz fest die Augen. Sie stellte sich ein Feuer vor, brennendes Holz, gelbe Flammen. Sie hörte das Zischen und Knacken des Holzes, spürte die Wärme, die sie streichelte, umschlang, in ihren Körper drang. Sie hörte auf zu zittern, eine tiefe Ruhe durchzog sie. Und dann schlief sie ein.
Irgendwann rüttelte jemand an ihrer Schulter. Es dauerte eine Weile, bis Viviane aus der Tiefe ihres Traums auftauchte. Verwirrt blickte sie sich um und blinzelte in die Helligkeit. Eine große Gestalt beugte sich über sie. Reflexartig krümmte sie sich schutzsuchend zusammen.
»Ich tu dir nichts«, vernahm sie die Stimme des Anführers, und wieder glaubte sie, leisen Spott darin zu hören. »Aber du solltest dich bewegen, damit du nicht frierst. Gib den Männern zu trinken!« Seine letzten Worte klangen wie ein Befehl. Viviane rappelte sich auf. Sie spürte, dass man diesen Mann nicht reizen durfte, wenn er auch sonst recht sanftmütig schien. Doch das war er nicht! Er war verantwortlich für den Überfall auf ihr Dorf.
Während sie auf den schwankenden Planken des Mittelganges zum Achterschiff wankte, sagte sie sich, dass sie sich nur der Gewalt beugte. Sie würde diesem Mann nicht dienen!
Im hinteren Teil des Schiffes lagerten einige Vorräte. Auch ein Wasserfass stand dort. Es war mit einem Leder sorgfältig abgedeckt. An einem Strick hing eine hölzerne Schöpfkelle. Viviane öffnete das Fass und schöpfte eine Kelle voll Wasser. Auf ein Kommando des Anführers hin hörten die Männer auf zu rudern, hoben die Ruder steil an und legten sie dann in dafür vorgesehenen Gabeln ab. Sie reichte dem ersten die Kelle, die er hastig austrank. Dann ging sie zum Fass zurück, füllte die Kelle wieder und reichte sie dem nächsten Ruderer. Es dauerte eine Weile, bis sie alle getrunken hatten.
»Jetzt gib den Gefangenen«, befahl er ihr. »Aber keine Dummheiten!«
Sie füllte die Kelle erneut und balancierte damit zum Vorderdeck, wo die gefangenen Dorfbewohner zusammengepfercht hockten. Da ihre Hände auf dem Rücken gefesselt waren, hielt sie ihnen die Kelle vorsichtig an die Lippen. Vor allem die Kinder litten an quälendem Durst. Ihnen gab sie mehr als eine Kelle zu trinken. Schweigend beobachtete der Anführer sie vom Heck seines Schiffes.
»Du hast den Gefangenen zu viel Wasser gegeben«, rügte er sie.
»Nur den Kindern«, erwiderte sie.
Sein Blick wurde streng. »Das Wasser ist knapp.«
Sie starrte ihn an. »Die Kinder sind am schlimmsten dran«, sagte sie leise. »Sie halten nicht so viel aus wie ein
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