Wogen der Liebe
um Viviane zu kümmern, hockte sich der Anführer in die Nähe des Feuers. Einer seiner Männer eilte diensteifrig herbei und reichte ihm ein großes Stück Fleisch und einen Krug Bier. Als wäre nichts geschehen, begann er zu essen.
Viviane hockte noch immer im Sand und wusste nicht, was sie tun sollte. Der Anführer kümmerte sich nicht mehr um sie, aber auch die anderen Männer taten so, als wäre sie gar nicht da. Und sie wurde auch nicht wieder gefesselt. Viviane vermutete, dass der Anführer der Wikinger sie prüfen wollte, ob sie wieder einen Fluchtversuch wagte. Sie überlegte kurz, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Ein zweites Mal würde er sich nicht so nachsichtig zeigen. Auf allen vieren kroch sie aus dem Kreis heraus und setzte sich hinter den Anführer. Eine Weile kaute er noch an seinem Hammelfleisch herum, dann wandte er sich zu ihr um. »Du glaubst wohl, du stehst jetzt unter meinem persönlichen Schutz, wenn du dich hinter meinen Rücken setzt?« Er lachte belustigt und klopfte mit der flachen Hand neben sich in den Sand. »Komm, setz dich zu mir.« Zögernd kroch Viviane näher. »Du bist schlau«, sagte er. »Unter dem Schutz des Drachens greift kein Wolf an. Du glaubst, du bist bei mir sicher.« Sein Lächeln widersprach seinem sonst so gnadenlosen Auftreten, und einen Moment glaubte Viviane seinen Worten. Doch im nächsten Augenblick brandete das Misstrauen wieder auf. Sie schaute ihn reglos an. Er warf ihr ein Stück gebratenes Fleisch zu, wie man einem Hund einen Knochen hinwirft. Es fiel in Vivianes Schoß. Sie nahm es vorsichtig. Der Duft stieg ihr in die Nase, verführte ihre Sinne. Ihr Magen knurrte und krampfte sich schmerzhaft zusammen. Hunger tat weh. Sie wandte den Kopf zum Berg, wo die verkohlten Mauern des Klosters noch immer dünne Rauchsäulen in den Himmel schickten. Jemand lachte laut und hämisch, zwei der Wikinger stritten sich. Leise wimmerte eine Frau. Es kam aus der Gruppe der Gefangenen. Langsam drehte Viviane sich wieder um und begegnete dem Blick des Anführers. Mit einer kurzen, heftigen Bewegung schleuderte sie das Fleisch zurück. Es prallte gegen seine Brust und fiel in den Sand. An seiner Miene sah sie, dass er überrascht war. Verärgert zog er die Augenbrauen zusammen.
»Stolz bist du auch noch«, stellte er fest. Das Fleisch ließ er liegen und beachtete sie nicht mehr.
Obwohl sich Viviane gegen den Schlaf wehrte, der sie zu übermannen drohte, dämmerte sie irgendwann weg. Erst als der Morgen mit seiner feuchten Kühle heraufzog, erwachte sie. Sie zitterte vor Kälte und Erschöpfung. Über dem Wasser lag eine Dunstschicht, in der die ankernden Drachenboote sanft auf den Wellen schaukelten. Es sah aus, als nickten sie auffordernd mit den Köpfen. Augenblicklich war Viviane hellwach und sprang auf. Keine Fessel behinderte sie, und auch sonst schien sich niemand um sie zu kümmern. Die Wikinger hatten begonnen, ihre Boote zu beladen. Den größten Teil der Beute hatten sie bereits am Abend auf die Boote gebracht. Jetzt trieben sie die Gefangenen zum Wasser. Frauen und Kinder schrien, weinten und wehklagten. Hilflos stand Viviane inmitten des Durcheinanders. Ein paar Hunde kamen zögernd näher. Es waren Tiere aus dem Dorf, verstört durch die nächtlichen Ereignisse. Auch Viviane hatte einen Hund besessen. Sie konnte nicht erkennen, ob er unter ihnen war. Wie alle Hunde des Dorfes wuchs auch er halbwild auf und erkämpfte sich innerhalb des losen Rudels ein paar Bissen von den Abfällen am Strand. Jetzt hätte Viviane sich gewünscht, dass sie ihn so abgerichtet hätte wie die königlichen Jäger, deren Hunde sich selbst vor Wildschweinen nicht fürchteten und sie todesmutig stellten. Sie hätte den Hund auf diese furchtbaren Wikinger gehetzt, und er hätte sie alle nacheinander totgebissen.
Sie beobachtete, wie die Wikinger die Gefangenen vor sich hertrieben, und wurde sich bewusst, dass es ein aussichtsloser Wunschtraum war. Gegen die Wikinger gab es kein Mittel, kein Hund, keine Gewalt, kein Gebet. Sie waren wie die Höllenflut selbst, sie kamen und gingen und hinterließen verbranntes Land und Verwüstung. Sie versuchte, unter den Gefangenen Patrick zu entdecken, doch sie konnte ihn nicht sehen. Wahrscheinlich war er ebenso tot wie fast alle Bewohner des Dorfes, wie Vater Hengist, wie Mutter Cedrilla, wie Pater Geoffrey. Mutlosigkeit und Verzweiflung ergriffen sie. Sie sollte die allgemeine Verwirrung nutzen, um endgültig zu flüchten.
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