Wogen der Liebe
Erwachsener. Wie könnt Ihr so grausam sein!«
Er blieb unbeeindruckt von ihren Worten. »Wenn das Wasser alle ist, werden die Kinder als Erstes verdursten.«
»Dann können wir an Land gehen, um frisches Wasser zu holen.«
»Woher willst du wissen, wie lange wir auf See bleiben?«
»Eure Männer benötigen auch Wasser, sonst können sie nicht rudern.«
»Du weißt wohl immer alles besser?«
»Nein, aber ich habe im Gegensatz zu Euch ein großes Herz. Eures ist kalt und grausam.«
Er lachte amüsiert auf. Doch dann wurde seine Miene ernst. »Du bist sehr kühn. Nein, du bist leichtsinnig und riskierst dein Leben, weil du wagst, mich zu beleidigen.«
»Mein Leben ist bereits verwirkt. Mir soll der Tod willkommen sein. Immerhin ist die Gnade des Himmels besser als die Schande der Sklaverei.«
»Du bist auch noch stolz«, stellte er belustigt fest. »Und aufsässig.«
»Ich bin freiheitsliebend. Das Gefühl müsste Euch doch bekannt sein.«
Er hob die Augenbrauen, die, von Sonne und Wind gebleicht, wie Silber in seinem gebräunten Gesicht wirkten. »Deine Zunge liebt offensichtlich diese Freiheit zu sehr. Hüte sie, sonst siehst du sie nie wieder! Außerdem hast du deine Ration Wasser verwirkt, indem du sie an die Kinder verschwendet hast.«
Sie starrte ihn an. Er war wirklich ein Scheusal! Sie presste die Lippen zusammen und reckte trotzig das Kinn vor. Sie würde sich von diesem Ungeheuer nicht demütigen und unterkriegen lassen. Dass sie den Kindern geholfen hatte, vermittelte ihr ein Gefühl des Stolzes und der Genugtuung. Und sie fühlte Triumph. Dann tauchte sie die Kelle noch einmal ins Wasser und reichte sie ihm.
»Ihr habt noch nicht getrunken«, sagte sie mit fester Stimme.
Der Wikinger stutzte und rang für einen Augenblick um Fassung. Dann verzogen sich seine Lippen zu einem Lächeln. »Meine Hochachtung, jetzt hast du mich beschämt. Das hat noch niemand mit Thoralf, dem Eroberer, getan. Da muss so ein kleines Mädchen mit grasgrünen Augen daherkommen!« Er nahm die Kelle, stapfte nach vorn und schüttelte immer noch lachend den Kopf.
Viviane deckte das Fass zu, ohne selbst etwas getrunken zu haben. Auch Thoralf trank nichts. Er gab seine Kelle Wasser dem kleinsten der gefangenen Kinder zu trinken. Viviane beobachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen.
Also Thoralf hieß er. War er nun ein gottloses Scheusal, oder wollte er sie auf die Probe stellen? Sie sollte vorsichtiger sein. Ganz sicher war mit ihm nicht zu spaßen, und im Zorn konnte er wohl genauso grausam sein wie sein heidnischer Gott Odin. Wenngleich Viviane getauft war, so sollte sie doch auch die heidnischen Götter nicht reizen. Das wusste sie von ihrer Mutter, die zeitlebens zwischen den Göttern geschwankt hatte.
Bei dem Gedanken an ihre Mutter stieg wieder Zorn in Viviane auf. Er war der Mörder ihrer Eltern und vieler Dorfbewohner. Das durfte sie niemals vergessen!
Thoralf gab den Befehl zum Weiterrudern und nahm wieder seine Position in der Nähe des Langruders ein, während Viviane sich am Vordeck hinter den hochgezogenen Bug duckte.
Es war erstaunlich, dass die Männer an den Rudern nicht müde zu werden schienen. Nur unterbrochen von kurzen Pausen, in denen sie ihre Ruder in die astgabelförmigen Dollen legten, blieben sie auf ihren Bänken hocken. Auch während der nachfolgenden Nacht ruderten sie, weil der Wind nachließ.
Thoralf ließ das Segel nicht einholen. Stattdessen beteten alle Männer gemeinsam zu Odin, er möge ihnen Wind schicken. Ihre Gebete bestanden aus lauten Rufen und Schreien. Viviane presste die Hände auf die Ohren. Sie wollte nicht Zeuge dieser Gottlosigkeit sein. Ihre Lippen flüsterten lautlos Gebete zu Gott, ihrem Gott. Sie erhoffte für sich und all die anderen Gefangenen Erlösung aus dieser Schmach der Gefangenschaft.
Die Kinder schliefen, einige Frauen weinten, die Männer schwiegen resigniert. Ihre Lage war hoffnungslos.
Eine leichte Brise kam auf, das Segel bewegte sich und knatterte, dann blähte es sich auf. »Odin hat uns erhört«, riefen die Männer und jubelten.
Mit dem Wind türmten sich auch die Wellen wieder auf, und das Boot schwankte gewaltig. Mit viel Geschick hielt der Steuermann es auf Kurs. Im Morgengrauen konnte Viviane auch die beiden anderen Drachenboote erkennen. Sie folgten ihnen in einigem Abstand.
Es war kalt. Wie mit eisigen Fingern kroch die Kälte unter Vivianes Kleid, und sie zitterte unentwegt. Mit der Kälte kam wieder die Angst. Ja, sie hatte Angst, und
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