Wohin das Herz uns trägt
während sie an ihrem Schreibtisch gesessen, ihren Papierkram erledigt, ihre Zeitschriften gelesen oder mit Peanut geplaudert hatte, Kunstwerke produziert? Sie hatte angenommen, er würde noch genauso kindisch rumkritzeln wie damals in Mr Chees Chemieunterricht. Plötzlich kam sie sich vor, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen. Wie hatte sie jeden Tag mit ihm verbringen können, ohne etwas davon zu merken? »Jetzt weiß ich, warum du gesagt hast, ich wäre egoistisch, Cal. Es tut mir leid.«
Er lächelte. Das Lächeln verwandelte sein Gesicht und erinnerte Ellie stark an frühere Zeiten. »Das ist eine Bildergeschichte über zwei beste Freunde. Er ist ein netter Kerl, aber er kommt aus einer miesen Gegend und hat einen Säufer als Vater. Sie versteckt ihn in ihrer Scheune. Wie sich herausstellt, ist das die letzte wirklich unschuldige Freundschaft auf der ganzen Welt, und die beiden sind dazu auserwählt, die Kugel des bösen Zauberers zu zerstören, ehe endgültig die Dunkelheit hereinbricht. Aber wenn sie sich küssen - oder noch weiter gehen verlieren sie ihre Macht und werden vernichtet. Ich hab gerade angefangen, Kopien davon an verschiedene Verlage zu schicken.«
»In der Geschichte geht es also um uns«, stellte sie nüchtern fest. Bei dieser Erkenntnis hatte sie plötzlich das Gefühl, dass sich vor ihr ein Korridor auftat, den sie nie zuvor bemerkt hatte. »Warum hast du mir das nicht schon früher mal gezeigt?«
Er strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr, stand auf und stellte sich vor sie. »Du hast schon vor ziemlich langer Zeit aufgehört, mich wahrzunehmen, Ellie. Du kennst den schlaksigen, verkorksten Jungen von früher und den stillen Typen, der aus ihm geworden ist und der immer , für dich da war. Aber mich, wie ich inzwischen bin, hast du sehr lange nicht mehr richtig angesehen.«
»Aber jetzt seh ich dich, Cal.«
»Gut. Ich warte nämlich schon furchtbar lange darauf, dir etwas Bestimmtes zu sagen.«
»Was denn?«
Er legte ihr die Hände auf die Schultern.
Und dann küsste er sie.
Nicht ein freundschaftliches Küsschen auf die Wange oder ein sanftes, tröstliches Berühren der Lippen. Nein, es war ein Kuss, bei dem Ellie das Blut in den Kopf schoss. Ein Kuss mit allem Drum und Dran.
Zuerst wehrte sie sich - es kam so unerwartet aber diesmal überließ Cal ihr nicht die Entscheidung. Er drängte sie an die Wand und küsste sie, bis sie kaum noch Luft bekam und ihr Herz so heftig und so schnell klopfte, dass sie fast Angst hatte, ohnmächtig zu werden. Dieser Kuss hielt nichts zurück und versprach alles.
Als er sich schließlich von ihr löste, lächelte er nicht mehr. »Hast du es jetzt kapiert?«
»O mein Gott.«
»Jeder in der Stadt weiß, was ich für dich empfinde.« Er küsste sie noch einmal. »Allmählich hab ich schon angefangen, an deinem Verstand zu zweifeln«, fügte er hinzu, als er sie wieder losließ.
Ellie konnte sich nicht erklären, wie sie - eine Frau von immerhin fast vierzig - sich wieder wie ein Teenager fühlen konnte, aber genauso war ihr zumute. Schwindlig und atemlos. In einem einzigen Augenblick hatten sich die Puzzleteile ihres Lebens zu einem Bild zusammengefügt. Plötzlich passte alles. Cal.
Hinter ihnen öffnete sich die Tür. Langsam drehte Ellie sich um, immer noch ganz benommen.
Im Türrahmen stand Peanut. Wie Blüten an einem Stiel schwebten hinter ihr drei kleine Gesichter. »Zieht schon mal eure Schlafanzüge an«, sagte Peanut, als sie ihre beiden Freunde sah, »euer Daddy kommt gleich zum Gutenachtsagen.« Als die drei Mädchen verschwunden und ihre Schritte auf dem Korridor verhallt waren, musterte Peanut erst Cal, dann Ellie und schließlich wieder Cal.
Langsam erschien ein Grinsen in ihren Mundwinkeln. »Hast du sie geküsst?«
Hat Peanut etwa Bescheid gewusst ? Der Gedanke schoss Ellie durch den Kopf, und einen Moment ärgerte sie sich. Doch dann zog Cal sie an sich, und sie vergaß alles andere. In diesen Augen, die sie schon von klein auf kannte, sah sie etwas - Liebe. Wahre Liebe, die Art von Liebe, die an einem kalten Herbsttag zwischen zwei Kindern begonnen und ein Leben lang gehalten hatte. Cal drückte ihre Hand. »Ja, ich hab sie geküsst.«
Peanut lachte. »War aber auch Zeit.«
Ellie legte die Arme um Cal und küsste ihn wieder, ohne sich im Geringsten daran zu stören, dass Peanut zuschaute. Es hätte ihr nicht mal etwas ausgemacht, wenn sie in Uniform während eines Verkehrsstaus mitten auf der Main
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