Wohin der Wind uns trägt
werden.
Nina zog ihre Hände weg und putzte sich mit einem zarten, spitzengesäumten Taschentuch die Nase. Ihre dunklen Augen funkelten Charlie wütend an.
»Immer wieder predige ich dir, dass du sie nicht auf deinen elenden Pferden reiten lassen sollst. Schließlich beschäftigen wir dazu Bereiter«, schniefte sie, wischte sich die verschmierte Wimperntusche weg und zupfte ihren Schal zurecht. Nachdem sie ihr glänzendes Haar zurückgestrichen hatte, band sie den Schal im Nacken zu einem Knoten. »Habe ich bei deinen Jockeys nicht schon genug Unfälle erlebt?«
Mit einem Seitenblick auf Charlie begann Nina, an ihren langen roten Nägeln herumzuzupfen. Ihre Hände zitterten heftig.
»Ich wusste, dass so etwas irgendwann passieren wird. Wenn sie …« Die Worte blieben ihr im Halse stecken, und wieder traten ihr Tränen in die Augen. »… das würde ich dir nie verzeihen«, flüsterte sie mit heiserer Stimme.
Charlie strich über die Wange seiner Frau und sprach leise auf sie ein, als rede er mit einem Kind.
»Neene, mein Liebling, es geht ihnen gut. Sie werden gesund, das verspreche ich dir. Du musst dich nur beruhigen. Dann kommt alles wieder in Ordnung.«
Wenigstens war es ihm gelungen, einen hysterischen Anfall abzuwenden. Er sah auf die Uhr. Bis zu seiner Sitzung hatte er noch ein wenig Zeit.
»Und jetzt pudere dir dein hübsches kleines Näschen, damit wir hineingehen und nach ihnen schauen können. Jo und Rick brauchen ihre Mutter im Moment ganz besonders.«
Nina schnäuzte sich erneut.
»In Krankenhäusern wird mir immer ganz mulmig«, meinte sie schniefend. Rasch holte sie eine Puderdose aus ihrem winzigen henkellosen Handtäschchen und kontrollierte ihr Gesicht im Spiegel.
»Ich sehe zum Fürchten aus.«
Äußerlich gelassen, wartete Charlie ab, bis sie ihre Lippen mit Lippenstift in einem warmen Pfirsichton betupft und einen Hauch von Puder auf ihre Nase aufgetragen hatte. Zu guter Letzt besprühte sie sich mit einer großzügigen Portion Parfüm. Nachdem sie mit einem letzten Aufschluchzer ihren Mantel zusammengerafft hatte, machten sie sich auf den Weg zu den Zwillingen.
Durch einen Nebel von Betäubungsmitteln nahm Jo nur undeutlich wahr, dass sie einen Flur entlanggeschoben wurde. Es roch nach Desinfektionsmittel, sie spürte kaltes Metall auf der Haut, und dauernd stellte man ihr Fragen, während sie immer wieder wegdämmerte. Sie erinnerte sich, dass die Schmerzen plötzlich nachgelassen hatten, ehe sie erneut in einem Betäubungsschlaf versank, damit man ihr die Schulter einrenken konnte. Einmal vermeinte sie, das Parfüm ihrer Mutter zu riechen.
Als sie nun die Augen aufschlug und sich umsah, fragte sie sich zunächst, ob sie das alles nur geträumt hatte. Sie lag unter einer blauen Krankenhausdecke auf einer mit Kunststoff bezogenen Liege in einem winzigen Raum. Unter ihrem Kopf befand sich ein Kissen, und die hellgrünen Vorhänge rund um das Bett waren zugezogen. Ihr rechtes Handgelenk war fest bandagiert, ihr Arm hing in einer Schlinge. Kopf und Schulter pochten gnadenlos. Am Fußende des Bettes stand ein junger Krankenpfleger und studierte ihre Akte.
»Willkommen unter den Lebenden. Wie fühlen Sie sich?«
»Nicht gut«, murmelte Jo. »Ich glaube, mir wird schlecht.«
Der Pfleger hielt ihr eine hellgrüne, nierenförmige Schale unters Kinn, und Jo würgte, bevor sie wieder zurück aufs Kissen sank und abwartete, dass die Welt aufhörte, sich zu drehen. Ihre Schulter fühlte sich an wie mit einer rot glühenden Eisenstange durchbohrt.
»Wie geht es meinem Bruder?«, fragte sie besorgt.
»Der Arzt kommt gleich zu Ihnen«, erwiderte der Pfleger, nahm die Schale weg und strich ihre Bettdecke glatt. Im nächsten Moment teilten sich die Vorhänge, und ein Arzt in weißem Kittel erschien.
»Na, junges Fräulein, wie geht es Ihnen? Wir haben uns große Sorgen um Sie gemacht.«
»Mir tut der Kopf weh, und außerdem ist mir übel. Wie geht es Rick?«, beharrte Jo, deren Benommenheit sich allmählich legte.
»Der ist schon wieder putzmunter«, antwortete der Arzt. Er hob Jos Augenlider an, um ihre Pupillen zu begutachten. »Können Sie mir sagen, wie Sie heißen?«
»Joanna Kingsford.«
»Und welchen Wochentag haben wir heute?«
»Mittwoch?«, entgegnete sie fragend.
»Gut. Und wenn Sie jetzt bitte an diesem Fuß mit den Zehen wackeln könnten.«
Jo gehorchte.
»Was ist mit meinem Bruder?«, wiederholte sie, und ihre Angst wuchs. »Warum behandeln mich alle hier wie ein
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