Wohin der Wind uns trägt
Die Rufe der Austernfischer hallten ihnen noch immer in den Ohren, als sie widerstrebend Burnham Overy Staithe verließen.
Zwei Wochen später fuhr Jo nach London, um Simons Eltern kennenzulernen. Insgeheim graute ihr vor der Begegnung, da sie wusste, dass Simon seine Hochzeit ihretwegen abgeblasen hatte. Doch zu ihrer großen Erleichterung hießen sie sie mit offenen Armen willkommen. Um die Atmosphäre ein wenig aufzulockern, unternahmen Jo und Simon Streifzüge durch Londons Antiquitätenmärkte und Juwelierläden und sahen sich einige Ringe an. Aber Jo konnte erst wieder aufatmen, als sie zurück in Norfolk war.
»Ich kann es kaum erwarten, dass wir endlich verheiratet sind. Dann muss ich mich nicht mehr ständig von dir verabschieden und nach London fahren«, meinte Simon, als sie eines kühlen Oktobernachmittags Arm in Arm die gewundene Landstraße hinter den Orion-Ställen entlangschlenderten.
Jo küsste ihn zart auf die Wange. Sie war müde und hatte die dauernden Abschiede ebenfalls satt. In letzter Zeit war sie sehr beschäftigt gewesen und hatte kaum einen freien Tag gehabt. Auch heute hatte sie sich nur für ein paar Stunden loseisen können, denn sie wollte sich nicht zu weit von den Ställen und von Neddy entfernen, der sich eine schwere Bronchitis eingefangen hatte.
»Sicher bereitet Dad sich gerade auf den Melbourne Cup vor«, sagte sie, unterdrückte ein Gähnen und sah zu, wie sich ein Schwarm Spatzen auf einer Mauer zankte.
Den langen hellbraunen Kaschmirschal, den Simon ihr geschenkt hatte, trug sie lose um den Kopf geschlungen und hatte die Enden über die Schultern geworfen. Eine heftige Windböe wehte ihr trockene Blätter und Staubkörner ins Gesicht. Hinter ihnen erstreckten sich dunkle umgepflügte Felder bis an den Horizont, und die Baumreihen, die die einzelnen Stücke Land voneinander trennten, waren inzwischen beinahe kahl. Der Winter stand vor der Tür. Jo war kalt.
»Er hat den Melbourne Cup schon zweimal gewonnen, und eines Tages werde ich es auch schaffen«, meinte sie, bückte sich, hob ein Blatt auf, zerdrückte es in der Hand und sah zu, wie der Wind die Reste davonblies.
»Seit ich Mum von dir berichtet habe, klingen ihre Briefe etwas freundlicher. Wenn ich zwischen den Zeilen lese, glaube ich sogar, dass sie mich vermisst.«
Kurz blickte sie Simon an und ging mit ernster Miene weiter. Plötzlich streifte sie den Schal zurück, rannte zum nächsten Gatter, sprang hinauf und blieb mit einem breiten Grinsen oben sitzen.
»Der Tag ist viel zu schön, um Trübsal zu blasen, und außerdem bin ich mit dir viel zu glücklich«, rief sie und klatschte in die behandschuhten Hände. »Ich verlange einen Kuss.«
Mit auffordernd geschürzten Lippen beugte sie sich vor, um ihn am Mantel festzuhalten.
»Das muss leider warten«, erwiderte Simon lachend und kramte in seiner Tasche. Er griff nach ihrer linken Hand und zog ihr den Handschuh aus.
»Hey, willst du, dass ich mir die Finger abfriere?«, protestierte sie.
Im nächsten Moment verstummte sie schlagartig und blickte überrascht auf einen riesigen, mit winzigen Diamanten gefassten Smaragdring, den er ihr an den Ringfinger steckte. Selbst an diesem trüben Nachmittag funkelten die Steine im Licht. Simon umfasste ihre Finger und betrachtete ernst ihr Gesicht.
»Joanna Kingsford, ich bete dich an, und ich werde dich lieben bis ans Ende meiner Tage. Obwohl du bereits Ja gesagt hast, möchte ich dich nun offiziell fragen, ob du meine Frau werden willst.« Seine Stimme erstarb, und Jos Augen füllten sich mit Tränen.
»Simon Gordon, Stern meines Herzens«, flüsterte sie. »Ich werde dich bis ans Ende meiner Tage lieben und möchte sehr gern deine Frau werden.«
Sie rutschte vom Gatter hinunter in seine Arme und blickte zu ihm auf. Sie schloss die Augen. Freudentränen quollen unter ihren Wimpern hervor und liefen ihr die Wangen hinunter, als ihre Lippen sich trafen und ihre Körper sich eng aneinanderschmiegten. Die spätherbstliche Kälte war vergessen. Lange standen sie reglos da, bis Simon sich schließlich losmachte und sich die Augenwinkel wischte. Er bebte am ganzen Leib.
»Eigentlich dürfen Männer nicht weinen, aber ich glaube, du wirst nie ermessen können, was du mir bedeutest, meine geliebte Jo«, stieß er aufgewühlt hervor. »Wenn wir noch länger hier herumstehen, wirst du Mutter werden, bevor du verheiratet bist. Du bist so schön und verführerisch.«
»Eine Mutter mit erfrorenen Zehen«, erwiderte Jo mit
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