Wohin der Wind uns trägt
liegt ein kleines Stück höher und sollte eigentlich trocken sein.« Er krempelte sich die Hosenbeine bis über die Knie hoch. »Auf dem Damm musst du die Schuhe wieder anziehen. Die Steine sind ziemlich scharfkantig. Wollen wir es versuchen?«
Jo ließ sich von seiner Begeisterung anstecken, krempelte sich ebenfalls die Hose hoch, griff nach ihren Schuhen und hüpfte auf den Fluss zu.
»Halt«, rief Simon lachend. Jo drehte sich erwartungsvoll um, und er nahm sie unvermittelt in die Arme, trug sie kichernd über den schmalen Wasserlauf und setzte sie auf dem Damm ab.
»Jetzt weiß ich endlich, woran mich deine Augen erinnern: Lavendel. Darüber zermartere ich mir nämlich schon seit einer Weile das Hirn«, meinte er und küsste sie zart auf die Nasenspitze.
Jo lachte, und ihre ebenmäßigen weißen Zähne hoben sich von den vollen Lippen ab, die – ebenso wie ihre rosigen Wangen – völlig ungeschminkt waren. Als Simon sie freigab, ließ sie die Hand kurz auf seiner Brust liegen.
»Ich weiß gar nicht, was ich mit all den Komplimenten und der Zuwendung anfangen soll«, erwiderte sie mit einem breiten Grinsen. »So lange schlage ich mich schon alleine durch, dass es mir richtig seltsam vorkommt.«
Eigentlich war das nur so dahingesagt gewesen, doch im nächsten Moment wurde ihr klar, dass sie es ernst meinte. Ehe sie sich versah, war sie schon dabei, Simon alles zu erzählen, was sich in den letzten achtzehn Monaten zugetragen hatte. Sie sprach über ihre Entschlossenheit, Pferdetrainerin zu werden, den Widerstand ihrer Eltern, den verhängnisvollen Überraschungsbesuch, die schrecklichen Vorwürfe ihrer Mutter und ihre höflich-kühlen Briefe. Simon lauschte entsetzt.
»Durch dich ist meine Welt wieder in Ordnung gekommen«, fuhr Jo mit wehmütiger Stimme fort. »Aber du musst verstehen, dass ich meinen Traum nicht aufgeben kann. Ich habe mich deshalb mit meiner Familie überworfen, und ich muss mir beweisen, dass ich es schaffe. Vielleicht finden sie sich dann endlich damit ab.« Tränen traten ihr in die Augen und liefen ihr über die Wangen. »Ich liebe dich von ganzem Herzen und könnte es nicht ertragen, dich wieder zu verlieren.« Sie zitterte. »Mum schreibt wenigstens noch, aber Dad …«
Es gelang ihr nicht, den Satz zu beenden. Simon reichte ihr sein Taschentuch, und sie putzte sich damit die Nase.
»Irgendwann werden sie sich schon beruhigen«, sagte er leise, legte beschützend den Arm um sie und wünschte, er könnte ihren Schmerz lindern.
»Wenn ich bei dir bin, geht es mir gleich viel besser«, fuhr Jo fort, schniefte, lehnte sich an ihn und ließ die idyllische Landschaft auf sich wirken.
Arm in Arm schlenderten sie über den Damm, der sich durch die Wattlandschaft schlängelte. Allmählich besserte sich Jos Stimmung wieder. Schlamm und Steine glitzerten im Sonnenschein, und eine Brise liebkoste Jos Wangen und zauste die Lavendelblüten. Vögel segelten durch den Himmel oder huschten über die Ebenen, und ihre Rufe waren weithin zu hören.
»Schau sie dir an. Sind sie nicht wunderschön?«, rief Simon aus. Er war erleichtert, dass Jos Miene wieder glücklich wirkte, und wies auf einen Möwenschwarm, der gerade auf dem Strand aufflog.
Begeistert sog Jo die Luft ein und ließ den Zauber der Landschaft auf sich wirken. Die Ebene erinnerte sie in gewisser Weise an zu Hause, und der hellblaue Himmel wirkte wie eine gewaltige Kuppel, die sie beide anzuziehen schien.
»Wirklich erstaunlich, dass diese Vögel über Hunderte von Kilometern jedes Jahr an denselben Ort zurückkehren. Sieh dir nur den mit der schwarzweißen Brust und den roten Beinen an. Der gefällt mir am besten. Das ist ein Austernfischer. Er wird bald in den Süden fliegen.«
Simon zeigte auf einen kecken kleinen Vogel, der anmutig über den feucht glänzenden Sand trippelte. Hinter Jo stehend, drehte er sie in Richtung des Vogels, legte eine Hand sanft auf ihren Arm und deutete mit der anderen über ihre Schulter. Jo umfasste seine Hand, und ihr wollte vor Liebe das Herz übergehen, als sie gemeinsam die Vogelwelt beobachteten. Der Austernfischer flog auf, kreiste über ihren Köpfen und stieß seinen unverkennbaren Schrei aus. Nun wusste Jo, warum dieser Ort Simon so viel bedeutete.
»Man fühlt sich ganz klein und unwichtig«, flüsterte sie.
»Deshalb wollte ich es dir zeigen«, flüsterte Simon. »Du solltest es selbst sehen und dieses Gefühl erleben. Man kann es nicht in Worte fassen. Außerdem möchte ich, dass es
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