Wohin der Wind uns trägt
Glück – das alles schien einer anderen Welt anzugehören. Die Miene der Krankenschwester wurde versöhnlicher.
»Ich muss Sie auf ein paar Dinge hinweisen«, begann sie und versperrte Jo den Weg durch die Tür. »Wir haben festgestellt, dass es für die Angehörigen besser ist, wenn sie sich darüber im Klaren sind, was sie erwartet. Es kann ein ziemlicher Schock sein, einen nahestehenden Menschen auf der Intensivstation liegen zu sehen. Mr Kingsford hängt an einem Beatmungsgerät. Das heißt, dass ein Schlauch durch seinen Mund bis hinunter in die Lunge führt und ihm das Atmen abnimmt. Außerdem hat er eine Magensonde in der Nase, einen Infusionsschlauch im Arm und ist an einen Herzmonitor angeschlossen. Die Geräte machen ziemlich viel Lärm, aber das sagt uns, dass alles funktioniert …«
Jo nickte, und ein flaues Gefühl machte sich in ihr breit.
»Mum hat es mir erzählt«, erwiderte sie mit zitternder Stimme.
»Tapferes Mädchen.« Die Schwester tätschelte Jo den Arm. »In diesem Stadium empfehlen wir, nicht zu lange zu bleiben und auch nicht mit zu vielen Personen gleichzeitig zu kommen, da es den Patienten zu sehr anstrengt. Mr Kingsford braucht viel Pflege und Ruhe. Im Moment ist Mrs Kingsford bei ihm. Vielleicht sollte einer von Ihnen im Wartezimmer bleiben.«
»Geh du nur rein, ich warte«, sagte Bertie mit leichenblassem Gesicht und gab Jo einen kleinen Schubs.
Ihm machte die Krankenhausatmosphäre schwer zu schaffen. Als er seinen Vater zum ersten Mal an all den Geräten gesehen hatte, wäre er beinahe in Ohnmacht gefallen. Die Worte der Krankenschwester genügten schon, dass ihm wieder flau wurde.
»Danke«, erwiderte Jo ernst.
Sie musste an Rick denken und folgte der Schwester durch die Doppeltür. Das mulmige Gefühl verstärkte sich.
Charlie lag in Bett Nummer sechs und sah genauso aus, wie die Schwester es beschrieben hatte. Er hatte die Augen geschlossen, sein Kopf mit dem fahlen Gesicht ruhte in den weißen gestärkten Kissen. An der rechten Schulter hatte er einen weißen Verband, seine Hände lagen auf der Bettdecke. In seiner linken Hand steckte ein Infusionsschlauch, der mit einem an einem Ständer hängenden Beutel verbunden war. Unter der Decke lugte ein weiterer durchsichtiger Plastikschlauch hervor, der in einen weiteren Beutel an der Seite des Bettes mündete. Trotz der Erklärung der Krankenschwester wurde Jo schwindelig, als sie ihren Vater so sah. Das Rauschen des Beatmungsgeräts, das Luft in seine Lungen presste, dröhnte ihr unerträglich in den Ohren. Am Bett saß eine Krankenschwester, die die Maschinen überwachte und sich Notizen machte. Nina, die ein paar Meter entfernt mit einem Arzt sprach, bemerkte Jo, brach mitten im Satz ab und eilte zu ihr hinüber.
»Jo, mein Liebes. Also hat Bertie dich gefunden«, flüsterte sie zerstreut und streifte Jos Wange mit den Lippen. »Ich habe gerade mit dem Arzt gesprochen.«
Sie holte tief Luft.
»Du musst sehr tapfer sein, mein Kind. Wir alle müssen sehr tapfer sein. Dein Dad ist schwer krank.«
Sie presste die Finger an die zitternden Lippen. Jo erwiderte den Kuss ihrer Mutter. Die Trauer schnürte ihr die Kehle zu, aber das Schwindelgefühl legte sich. Geistesabwesend streichelte Nina Jos Arm.
»Wir unterhalten uns später, Liebes. Ich muss erst die Oberschwester suchen«, sagte sie und ging davon.
Jo setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett und musterte das reglose blasse Gesicht ihres geliebten Vaters. Sein Bild verschwamm vor ihren Augen.
»Dad«, flüsterte sie und streckte die Hand nach ihm aus.
Obwohl sie so gerne seine bleichen Wangen geküsst hätte, wagte sie nicht, ihn zu berühren. In dieser von medizinischen Geräten und unpersönlichen Abläufen geprägten Welt fühlte sie sich verloren und überflüssig. Was geschah, wenn er nicht überlebte? Wenn sie ihm nie mehr sagen konnte, wie sehr sie ihn liebte und sich danach sehnte, dass er sie respektierte? Wenn sie nie die Möglichkeit erhielt, ihm zu erklären, warum sie sich so verhalten hatte? Sie biss sich auf die Unterlippe.
»Sie dürfen seine Hand drücken, Liebes«, meinte die Krankenschwester, die das Beatmungsgerät überwachte, leise, als sie Jos Schmerz bemerkte. Sie hatte großes Mitleid mit dem Mädchen, denn junge Menschen trafen Tragödien wie diese immer am schwersten.
Kurz blickte Jo auf und nickte zum Dank. Dann umfasste sie vorsichtig die schlaffe, reglose Hand ihres Vaters, und die Berührung sorgte dafür, dass ihr erneut die
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