Wohin der Wind uns trägt
braucht man eben einen guten Freund, damit man endlich aufwacht. Viel wichtiger ist, ob du auch alles gepackt hast und reisefertig bist.« Sie streckte die Hand nach Jo aus.
»Ich habe noch nicht einmal angefangen, und in vierzig Minuten muss ich am anderen Ende von Sydney sein«, erwiderte Jo gehetzt und wollte lieber nicht daran denken, was ihre Mutter gemeint haben könnte. »Wäre es vielleicht möglich, dass du …«
»Geh nur duschen, Kind. Ich kümmere mich darum«, unterbrach Nina und brachte Jo mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Vertrau mir. Ich weiß genau, was dir steht. Also konzentriere dich auf deine Sitzung. Ich sorge dafür, dass dein Gepäck rechtzeitig am Flughafen ist.«
»Danke, Mum, ich liebe dich«, rief Jo überrascht.
Eine Viertelstunde später umarmte Jo erleichtert, dankbar und ein wenig besorgt ihre Mutter zum Abschied, sah noch einmal nach ihrem Ticket und machte sich auf den Weg. Nina blickte ihr nach und berührte ihre Wange, wo Jos Lippen sie gestreift hatten. Bis heute war ihr nicht klar gewesen, für wie selbstverständlich sie die Liebe ihrer Kinder nahm. Während sie Jos Kleider faltete und ordentlich in den Koffer packte, war ihr der gestrige Abend noch einmal durch den Sinn gegangen.
Dieser hatte seltsam begonnen. Es war nichts Greifbares gewesen, nur ein Gefühl, das Nina nicht richtig in Worte fassen konnte. Schon bei ihrer Ankunft in dem Restaurant hatte sie gespürt, dass sich die Stimmung zwischen ihr und Jack verändert hatte. In ihrer Verzweiflung und Erschöpfung, in dem Schmerz, Charlies Verfall mit ansehen zu müssen, und erfüllt von finanziellen Sorgen, hatte Nina gar nicht bemerkt, wie sehr sie sich inzwischen auf Jack verließ.
Sie war ein Mensch, der sich gern amüsierte, und sie hatte den Wein, die dezente, elegante Atmosphäre und die Mahlzeit genossen. Auch das Knistern, das zwischen ihnen in der Luft lag, hatte sie als angenehm empfunden. Sie sprachen über ihre Kinder und lachten über Kleinigkeiten, eine kleine Ablenkung vom traurigen Alltag, die Nina bitter nötig gehabt hatte. Sie dachte sich nichts dabei, als Jack sie auf einen Schlummertrunk zu sich nach Hause einlud. Bei Kaffee und Likör saßen sie auf der Veranda, um dem Quaken der Frösche zu lauschen und die Nachtluft zu genießen, und plötzlich legte Jack die Arme um sie und versuchte, sie zu küssen. Im ersten Moment war Nina sprachlos gewesen. Ungläubig hatte sie sich von ihm losgemacht. Aber seine Reaktion war es, die sie am meisten erschüttert hatte.
»Meine Güte, das war es doch, was du wolltest. Streite es nicht ab. Den ganzen Abend sendest du Signale aus, Neene.«
Dass er Charlies Kosenamen für sie benützte, brachte das Fass zum Überlaufen. Nina sprang auf und lief zur Tür. Doch Jack hielt sie fest.
»Nur Charlie darf mich Neene nennen«, schluchzte sie mit Tränen in den Augen.
»Lass die Spielchen, Neene. Du bist eine erwachsene Frau. Wenn du nicht willst, was ich zu bieten habe …« Gereizt ließ Jack sie los, trat zurück und steckte die Hände in die Hosentaschen.
Ninas Augen weiteten sich, und sie schlug entsetzt die Hand vor den Mund. Wie konnte sie nur ein solches Missverständnis verursachen?
»Jack, verzeih mir, ich hatte keine Ahnung. Ich wollte keine Signale aussenden. Es tut mir wirklich sehr leid«, stammelte sie und ging einen Schritt auf ihn zu. »Du bist ein wundervoller Freund, Jack, und ich bin dir sehr dankbar. Ich habe deine Gesellschaft genossen und mich in deiner Gegenwart geborgen gefühlt. Aber ich wollte dir auf keinen Fall das Gefühl vermitteln, dass zwischen uns mehr sein könnte. Ich bedauere das außerordentlich.«
Eine Weile starrten die beiden einander an. Jack zuckte am Ende mit den Achseln, und die Stimmung entspannte sich ein wenig.
»Du bist eine schöne Frau, Nina, und ich bin ein erwachsener Mann mit Gefühlen. Was hätte ich deiner Ansicht nach denken sollen?« Er nahm die Autoschlüssel und fuhr sie heim.
Nina ließ die Schließen zuschnappen und stellte den Koffer auf den Boden. Sie warf einen kurzen Blick auf das Familienfoto auf Jos Frisiertisch, das noch zu Ricks Lebzeiten aufgenommen worden war. Beklemmt dachte sie daran, was ihre Tochter durchgemacht hatte und wie sie die Familie zusammenhielt, während sich ihre Mutter verzweifelt an jeden Strohhalm klammerte. Nina machte sich, was ihr eigenes Verhalten nach Charlies Unfall anging, nichts mehr vor. Ihre Tochter zeigte mehr Mut, Kraft und Entschlossenheit, als sie
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