Wohin der Wind uns trägt
Verständnis für Pferde und ihre Ausbildung fehlte. Er war für sie wie der verlorene Bruder, mit dem sie über alles reden konnte. Dass er sie im Gespräch scherzhaft Schneewittchen nannte, wurde zu ihrem kleinen Geheimnis, das ihre aufkeimende Freundschaft noch stärkte.
»Ich weiß einfach, dass Dopey enormes Potenzial hat. Wir müssen nur sehr geduldig mit ihm sein. Entweder rennt er los wie ein Wilder, oder er trödelt herum wie eine richtige Schlafmütze«, vertraute sie Phillip eines Tages Anfang März nach der Bahnarbeit an.
Er hatte sich angewöhnt, zwei- oder dreimal in der Woche beim Training zuzusehen oder beim Reiten auszuhelfen, wenn Jo ihn brauchte. Jo ertappte sich manchmal dabei, dass sie morgens auf ihn wartete.
»Kannst du dir heute Morgen seinen Rücken gründlich anschauen? Er bewegt sich so merkwürdig steif«, meinte sie auf dem Weg zum Auto.
»Wir sollten einen Blick auf die Futterzusätze werfen. Manchmal kann da eine kleine Veränderung viel ausmachen«, erwiderte Phillip und klappte seine Tasche zu. Jo bat Pete, ihr die Futterliste zu bringen. Dabei sah sie sich nach Sam um.
»Wir können bei mir im Büro einen Kaffee trinken und die Liste durchgehen. Hat Sam dich übrigens heute Morgen begrüßt?«, fragte sie plötzlich besorgt. Als sie ihm heute Morgen aus dem Auto geholfen hatte, hatte er sich kaum bewegen können. Phillip schüttelte den Kopf. Jo sah auf seinem Stammplatz unter der Treppe nach, aber der Hund war nicht da.
»Das ist aber seltsam. Sam! Sam!« Jo stieß einen Pfiff aus, und ihre Angst wuchs. Suchend eilte sie ins Büro, wo sie Sam neben dem alten, mit Leder bezogenen Schreibtisch ihres Vaters fand.
»Da bist du ja, Sam, alter Junge. Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Brauchst du Hilfe?«, rief sie und eilte auf ihn zu. Er versuchte aufzustehen, doch seine Hinterbeine versagten den Dienst. Sein Blick war ängstlich und verwirrt.
»O Gott! Phillip!«, schrie sie.
Phillip war schon da, schob sie sanft beiseite, kniete sich neben Sam und streichelte ihn, während er den Hund geschickt abtastete.
»Wir fühlen uns wohl nicht so gut, alter Junge.« Er befühlte Sams Hals. Sam lag wimmernd da und sah Jo an. Phillip richtete sich auf. »Seine Hinterbeine sind das Problem. Er kann sie nicht mehr benützen. Siehst du die Schwellung?«, sagte er, um Ruhe bemüht.
Situationen wie diese waren es, die er an seinem Beruf am meisten hasste, und Jos trauriger Blick machte ihm die Entscheidung nicht leichter.
Jo stand stocksteif da, es war ihr anzusehen, wie sie litt. Sie hatte schon Pferde leiden sehen, die größere Schmerzen hatten als Sam, doch keines von ihnen hatte ihr so viel bedeutet wie er. Sie biss sich auf die Unterlippe, während Phillip ihr einfühlsam erklärte, was sie eigentlich wusste. Sam war ein alter Hund. Sein Körper verweigerte den Dienst.
»Kannst du gar nichts tun?«, flüsterte sie, obwohl sie im Grunde ihres Herzens wusste, dass Sams Zeit gekommen war. Phillip schüttelte den Kopf. Sam sah Hilfe suchend zu Jo auf.
»Es ist das Beste für ihn, schnell und schmerzlos. Er wird einfach einschlafen«, sagte Phillip. »Willst du bei ihm bleiben, wenn ich ihm die Spritze gebe?«
Jo nickte und schluckte schwer.
»Du bist ein toller Hund, Sam, und ein wirklicher Freund«, meinte sie leise, kniete sich hin und streichelte den Kopf des Hundes. Ohne eine Träne zu vergießen, hielt sie Sams Kopf fest, während Phillip ihm die tödliche Spritze verabreichte, und liebkoste dabei sein weiches gelbes Fell. Vertrauensvoll sah Sam sie an, und der Schmerz schwand allmählich aus seinem Blick, als das Medikament zu wirken begann. Dann schloss er die Augen, und sie wusste, dass er tot war. Lange saß Jo da, streichelte ihn und sprach mit ihm, bis sie schließlich innehielt.
»Er war ein wundervoller Hund«, sagte Phillip mitfühlend und holte Jo damit in die Wirklichkeit zurück.
Sie schaute auf.
»Ich bin froh, dass du es gemacht hast und nicht irgendein anderer«, erwiderte sie. Angespannt kauerte sie da und fing an, über Futtermittellisten und Besprechungen zu reden.
Phillip, der ihre Trauer kaum ertragen konnte, kniete sich neben sie und nahm sie in die Arme.
»Schon gut, Schneewittchen, du musst nicht immer tapfer sein. Lass es raus. Ich weiß, wie sehr du ihn geliebt hast.« Seine Worte lösten Jos Verkrampfung, und sie stieß einen schmerzerfüllten Laut aus.
»Er gehörte so lange zur Familie«, schluchzte sie, und ihre Schultern
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