Wohin der Wind uns trägt
nur ein Problem: Ganz gleich, was sie auch tat, gewöhnte er sich nie wirklich daran, gegen den Uhrzeigersinn um die Bahn zu laufen, wozu er in Flemington allerdings gezwungen sein würde. Obwohl dieser Umstand Jo großes Kopfzerbrechen bereitete, ließ sie sich nicht entmutigen.
Zu diesem Problem mit Let’s Talk gesellte sich ein weiteres. Bei einem wichtigen Rennen in Rosehill hastete Hope – in einem schicken Kostüm und mit einem puscheligen weißen Hütchen auf dem Kopf – voller Angst auf Jo zu.
»Es gibt Schwierigkeiten mit Sleeper. Er benimmt sich seltsam. Sie müssen unbedingt kommen«, fiel sie Jo, die gerade mit einem der Turnierleiter plauderte, ins Wort.
Jo hatte bereits nach allen Pferden gesehen. Außerdem war Sleepers Pfleger einer ihrer zuverlässigsten Mitarbeiter. Im Laufschritt eilte sie zu den Boxen und drängte sich durch die Menschenmenge, die sich um das Pferd geschart hatte. Beim Anblick von Sleeper wurde sie blass, denn das kräftige Pferd taumelte auf unsicheren Beinen und mit schmerzgepeinigtem Blick in seiner Box hin und her. Sleepers Pfleger drehte sich zu ihr um, er hatte Tränen in den Augen.
»Vor ein paar Minuten hat er Durchfall bekommen. Jemand muss ihm etwas gegeben haben«, stammelte der junge Mann, während das Pferd sich bemühte, auf den Beinen zu bleiben. Angespannt sah Jo zu, wie der Tierarzt herbeieilte und verkündete, man habe dem Pferd ein Medikament verabreicht. Fünf Minuten später half Jo Sleeper schweren Herzens in den Krankenwagen. Der Ansager verkündete unterdessen, das Pferd sei auf tierärztlichen Rat aus dem Rennen genommen worden.
Sobald Sleeper wieder einigermaßen auf dem Damm war, schickte Jo ihn zur Erholung nach Dublin Park. Allerdings hatte der Zwischenfall ihr einen ziemlichen Schrecken eingejagt, und ihre Angst vor weiteren unangenehmen Ereignissen wollte sich nicht legen. Jeden Tag vergewisserte sie sich zusammen mit Winks, dass es weder ungebetene Besucher noch außergewöhnliche Ereignisse gegeben hatte. Wieder und wieder ging sie ihre Mitarbeiterliste durch, aber alle Angestellten waren ihr und ihren Pferden treu ergeben. Jo konnte sich nicht vorstellen, dass einer von ihnen dem Stall schaden wollte. Selbst Glen, der erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit an Bord war, liebte seinen exzentrischen Schutzbefohlenen sehr, und Jo traute ihm nicht zu, sich von einem anderen Rennstall bestechen zu lassen. Allerdings musste sie ständig an Kurt und den Hass in seinen Augen denken, wenn sie ihm auf der Rennbahn begegnete. Je näher der Melbourne Cup rückte, desto häufiger schien sie ihm über den Weg zu laufen. Der November nahte, und Jo wurde immer nervöser. Inzwischen ließ sie keinen Tierarzt außer Phillip mehr an ihre Pferde – insbesondere an Let’s Talk – heran.
»Warum gehen wir nicht eine Kleinigkeit essen, sehen uns einen kitschigen Film an und vergessen für ein paar Stunden die Pferde und das Rennen? Schließlich brauchst du deine Kräfte für die ganzen Veranstaltungen in Melbourne«, schlug Phillip nach einem besonders anstrengenden Tag Anfang Oktober vor.
»Wahrscheinlich werde ich sie verschlafen«, gab Jo mit einem spöttischen Grinsen zu, obwohl sie sich über Phillips Anteilnahme freute.
Der Melbourne Cup fand jedes Jahr am ersten Dienstag im November statt. Am Freitag zuvor wurde ein großer Ball gegeben. Gleichzeitig wurden andere hochkarätige Wettbewerbe veranstaltet, darunter zwei sehr wichtige Rennen, das Victoria Derby und das MacKinnon-Hindernisrennen.
Jos Nervosität wuchs, und während sie sich selbst zu immer neuen Höchstleistungen antrieb, missachtete sie die Warnsignale ihres Körpers und arbeitete unermüdlich. Sie schrie ihre treuen Mitarbeiter an, machte aus einer Mücke einen Elefanten, was sonst gar nicht ihre Art war, und wurde immer reizbarer.
Eines Tages rief überraschend Emma an, und Jos Stimmung besserte sich schlagartig.
»Heute hat Emma sich gemeldet – du weißt schon, meine berühmte Modelfreundin. Sie soll am Derby Day die Kostümpreise überreichen«, sagte Jo aufgeregt zu Phillip.
In ihrer Stimme schwang eine Begeisterung mit, die er lange vermisst hatte. Allerdings klang Jo auch ein wenig heiser, da sie seit drei Tagen an Halsschmerzen litt.
»Das ist klasse. Dann lerne ich diese Göttin endlich persönlich kennen«, erwiderte er vergnügt.
Jo steckte eine Lutschtablette in den Mund.
»Sie ist zum Ball am Vorabend des Derbys eingeladen. Aber sie hat gesagt, sie will nur mit uns
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