Wohin der Wind uns trägt
dem Zug stiegen. Die Tante trug einen dicken Tweedmantel und hatte ein Wolltuch mit Paisleymuster um ihren grauen Wuschelkopf geschlungen. Nachdem sie Emma umarmt hatte, drückte sie Jo fest die behandschuhte Hand. Dann griff sie nach Emmas größtem Koffer und steuerte raschen Schrittes auf den Parkplatz zu. Jo, die ihr in den dämmrigen verschneiten Nachmittag hinausfolgte, überlegte, ob sie wohl Ähnlichkeit mit Martha Wellbourne hatte. Mit ihrer barschen Art und der tiefen Stimme strahlte Tante Sarah eine Autorität aus, die auf Jo gleichzeitig einschüchternd und beschützend wirkte.
»So, wie ihr beide ausseht, verordne ich euch ein heißes Bad und frühe Bettruhe«, verkündete Tante Sarah und verstaute die Koffer im Kofferraum des alten, blitzblank polierten schwarzen Mercedes. Jos dunkle Augenringe und Emmas eingefallene Wangen waren ihr nicht entgangen. »Gibt man euch nichts zu essen? Ihr macht einen richtiggehend verhungerten Eindruck.«
»Das sagst du jedes Mal, Tante Sarah. Wenn es nach dir ginge, könnte man mich rollen«, meinte Emma lachend, küsste ihre Tante auf die Wange und blinzelte sich die Schneeflocken von den Wimpern. Jo und sie räumten zusammen zitternd vor Kälte das restliche Gepäck ins Auto.
»Nun, es könnte euch nicht schaden, ein paar Kilo zuzunehmen«, entgegnete Sarah streng, klappte den Kofferraum zu und nahm hinter dem Steuer Platz.
Fröhlich stieg Emma neben ihr ein, während Jo sich erleichtert auf die Rückbank setzte, wozu sie zunächst einen Stapel Broschüren des hiesigen Roten Kreuzes beiseite schieben musste. Sie rieb sich die steif gefrorenen Finger; ihre Ohren brannten vor Kälte. Es dauerte nicht lange, bis die Scheiben von ihrer Körperwärme beschlagen waren.
Die Fahrt zu Tante Sarahs Haus dauerte eine halbe Stunde. Jo wischte mit dem Ärmel die Scheibe frei, spähte hinaus und schnappte begeistert nach Luft. Der Wagen glitt durch eine weiße Winterzauberwelt mit gewundenen Straßen und hohen Bäumen, deren Äste sich unter dem gefrorenen Schnee bogen. Der Weg führte sie durch schneebedeckte Alleen, offenes Gelände, über dem Nebel stand, und vorbei an unter wellenförmigen Schneeverwehungen verschwundenen Feldern. Ratternd überquerten sie eine schmale Holzbrücke. Tante Sarah bog scharf nach links ab, wo es hinter der hübschen alten Dorfkirche in die Ortschaft Shesley Walsh ging. An einigen alten Steinhäusern vorbei, fuhren sie eine schmale Straße entlang, wobei die gestutzten Hecken zu beiden Seiten beinahe den Wagen streiften. Zu guter Letzt erreichten sie eine breite, ordentlich gepflegte Auffahrt und hielten vor einem großen, mit Moos bewachsenen Backsteinhaus. Die Lampen hinter den geschlossenen Vorhängen schimmerten einladend.
»Willkommen im ›Krähennest‹, Jo«, verkündete Tante Sarah und betätigte ein wenig zu nachdrücklich die Handbremse.
Jo fand auf Anhieb, dass das schlichte Anwesen Sarahs Persönlichkeit hervorragend widerspiegelte. Im nächsten Moment öffnete sich die weiße Eingangstür mit dem schimmernden Türklopfer aus Messing, und ein hochgewachsener, leicht gebeugter Mann mit schütterem grauem Haar erschien, um sie zu begrüßen.
»Das ist mein Bruder Charles. Er ist zur Fasanjagd hier«, erklärte Sarah und stellte Jo vor, während sie das Gepäck aus dem Wagen holten und durch den frisch gefallenen Schnee wateten. Jo wich einer tief über der Tür hängenden Ranke des wilden Weins aus und wäre beinahe von einem schwarzen Schatten umgerannt worden, der sich ihr entgegenwarf.
»Zurück ins Haus, Winston und Churchill«, befahl Sarah, als ein zweiter schwarzer Schatten herangestürmt kam.
Jo ließ ihre Taschen fallen, ging mit einem breiten Lächeln in die Knie und umarmte die beiden schwarzen Retriever, die erst sie und dann Emma ableckten und dabei wild mit dem Schwanz wedelten. Jo musste an Sam denken, der laut Ninas letztem Brief wohlauf war.
»Ins Haus!«, wiederholte Sarah, worauf die Hunde widerstrebend gehorchten. »Eigentlich haben wir sie als Jagdhunde ausgebildet, aber ich fürchte, meine Nichten und Neffen haben sie bei ihren Besuchen zu sehr verwöhnt«, meinte Sarah mit einem vielsagenden Blick auf Emma.
Drinnen in dem ordentlichen Flur schlugen ihnen der Geruch von Möbelpolitur und köstliche Küchendüfte entgegen. Jo merkte, dass sie sehr hungrig war. Die Wände wurden von Familienporträts und Originaldrucken geziert, die Fasane, Rebhühner und andere heimische Wildtiere darstellten. In den
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