Wohin der Wind uns trägt
ganze Geschichte aus ihr herauszuholen: Ricks Tod; Jos Enttäuschung, weil ihr Vater ihr nie schrieb; das ständige Drängen ihre Mutter; ihre Angst, nie wieder mit Pferden arbeiten zu dürfen, und der Ekel, den sie bei Gastons Annäherungsversuchen empfunden hatte. Gaston hatte sie nachdrücklich daran erinnert, dass sie ihm ihre Modellkarriere verdankte.
»Benutzen und wegwerfen – das ist das Motto, nach dem diese Leute leben, Jo. Das musst du lernen. Wenigstens sagt Carlos das immer, wenn es mir schlecht geht. Du musst dir eine harte Schale zulegen. Hier, mach deine Post auf. Bestimmt ist etwas dabei, das dich aufmuntern wird.« Emma reichte ihr einen Stapel Briefe.
Jo setzte sich auf und putzte sich die Nase. »Wer ist Carlos?«, fragte sie, während sie die Umschläge durchsah.
Es waren zwei Briefe von ihrer Mutter und einer von ihrer Agentin dabei. Sie legte die von ihrer Mutter beiseite und riss den geschmackvoll bedruckten Umschlag auf, in dem sie eine Ergänzung zu ihrem Terminkalender erwartete. Doch stattdessen befand sich ein Scheck über einen unanständig hohen Betrag darin, begleitet von einem freundlichen Schreiben. Jo, die bereits eine bescheidene Summe von der Agentur erhalten hatte, schnappte nach Luft. Dann sah sie Emma an und lachte.
»Kann das stimmen?«, fragte sie und zeigte Emma den Scheck.
»Das ist noch gar nichts, verglichen mit dem, was du später einmal verdienen wirst«, erwiderte Emma und umarmte ihre Freundin, erleichtert, dass Jo ein wenig vergnügter wirkte. »Ich habe Claudette gerade auf dem Flur gesprochen. Seit du weg bist, ist hier die Hölle los. Deine Agentin ruft ständig an, weil Agenturen aus ganz Europa ihr die Bude einrennen, um dich zu buchen.«
Aufgeregt sprang sie auf und zog Jo vom Bett hoch. Nachdem sie ihr ein Handtuch in die Hand gedrückt hatte, schob sie sie ins Bad.
»Beeilung. Ich habe für uns in einer halben Stunde einen Friseurtermin vereinbart. Oder hast du Jennys Weihnachtsparty vergessen? Sie hat halb Paris eingeladen, also müssen wir beide etwas hermachen … Außerdem muss ich dir von Carlos erzählen. Er ist ein wundervoller Fotograf, den ich in Florenz getroffen habe. Er kennt Gott und die Welt … Und die zweite Nachricht ist«, rief sie durch die Badezimmertür, »dass wir beide Silvester bei Tante Sarah in England verbringen werden. Ich habe drei Wochen Zeit, bevor ich nach New York muss. Was ist mit dir?«
»Heißt das, dass ich mir endlich die dämlichen alten Ställe ansehen kann?« Eine tropfnasse Jo streckte den Kopf zur Tür heraus. Auf einmal war sie sehr glücklich.
»Ich denke schon … Oh, Jo, ich habe dich so vermisst und muss dir eine Menge erzählen.«
»Du hast mir auch sehr gefehlt. Du musst mir haarklein berichten, was du alles seit unserer letzten Begegnung erlebt hast«, erwiderte Jo, bevor sie erneut im Bad verschwand.
Es war so schön, Emma wiederzusehen.
Während sie sich rasch einseifte, kehrte ihre Entschlossenheit zurück. Eine Pause würde himmlisch sein und ihr die Möglichkeit geben, Kraft zu tanken.
Anschließend würde sie diesem chaotischen und anstrengenden Beruf eine letzte Chance geben, damit ihr Vater ihr nicht vorwerfen konnte, sie hätte es nicht ernsthaft versucht.
Außerdem war das Geld nicht zu verachten. Wenn Dad nur geschrieben oder angerufen hätte … aber daran durfte sie nicht denken.
Jo war froh, wieder bei Emma und Jenny zu sein. In einem atemberaubend schlichten, schwarzen Kleid, das sie in Italien geschenkt bekommen hatte, schlängelte sie sich durch die dicht gedrängte Gästeschar in der Wohnung der Bercys, verteilte Häppchen, lachte und plauderte und ließ sich von der festlichen Stimmung anstecken.
Gerade versuchte sie, Jacques’ fünften Versuch zu vereiteln, sie unter dem Mistelzweig zu küssen, da läutete das Telefon. Es war ein Ferngespräch aus Australien.
»Dad«, rief Jo und hatte Mühe, den Partylärm zu übertönen.
»Wie läuft es in der Kingsford Lodge? Ich vermisse euch alle sehr.«
Nachdem Charlie Jo rasch die Lage zu Hause geschildert, ihr über jedes einzelne Pferd Bericht erstattet und ihr versichert hatte, dass Fizzy wohlauf sei, fügte er hinzu: »Ich liebe dich, Jo. Deine Mutter, ich und wir alle hier sind sehr stolz auf dich. Gut gemacht.«
Das war das allerschönste Weihnachtsgeschenk, das Jo sich denken konnte.
10
Tante Sarah wartete allein auf dem Bahnsteig des Bahnhofs von Worcester, als Jo und Emma am Tag vor Silvester mit ihrem Gepäck aus
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