Wohin sind wir unterwegs
auf der Chausseestraße, mußte die Menge warten, mir schoß das Wasser in die Augen. – Christa kannte beizeiten Gedränge, und heute müssen Senatsmaßnahmen der Sache Herr werden. Wohl nie hat so viel Liebe eine Tote zum Grab geleitet.
Vielleicht haben wir alle gehofft, daß sie nie sterben wird. – »Nun ja! Das nächste Leben geht aber heute an.« Nun nein, sie kann nicht mehr. In ihr letztes Buch ist wohl ihre Lebenskraft geflossen. Sie geht leibhaftig fort. Ausgelebt, ausgekämpft das alles. Ich höre sie lachen. Sie steht nun drüber, und liegt eben drunten. Der Alltag der Toten beginnt. Er wird bei ihr ausgefüllt sein.
Die Gestalten, die sie heraufrief, Kassandra, Medea, umstehn sie wie Schwestern, ein Schutzengelgeschwader. Sie haben alle ihre Gestalt. Sie geht nun selbst in den Mythos ein.
Wenn wir hier um sie trauern, so mit Dankbarkeit, in schmerzlicher Freude, in unserer Freiheit.
Was sah sie zuletzt, welches Licht? Winter wird es.
JANA SIMON
Liebe Familie, liebe Gäste,
ich sehe dich und Opa am Kopf der großen Tafel in Woserin sitzen zu eurem 60. Hochzeitstag. Draußen regnet und stürmt es, ein mißglückter Sommer. Das letzte große Fest. Die Familie ist versammelt, um euch zu feiern. Immer wenn ich an dich denke, denke ich auch an Opa. Für mich seid ihr zu zweit. Diese Beziehung – durch nichts zu erschüttern, fast aus der Zeit gefallen – dauerte länger, als wir Enkel bisher gelebt haben. »Eine ideale Verbindung« hast du das genannt, durch Arbeit, Respekt und Zuneigung miteinander verwoben. Und als ich dich einmal fragte, was euch so lange zusammengehalten hat, hast du geantwortet: »Wir konnten einander immer etwas geben.«
Wie oft waren wir als Familie gerührt von der Sorge und Fürsorge Opas, ganz besonders in den vergangenen Monaten. Bis zuletzt hat Opa jeden Tag eine Suppe für dich gekocht. Jeder, der meinen Opa kennt, weiß: Er würde das nie so sagen, aber es war eine große, lebenslange Liebe. Es fällt sehr schwer, euch nicht mehr als Paar zu denken.
Mir kommen die großen Runden in den Sinn in der Friedrichstraße, in Meteln, in Woserin und in Pankow, stets gab es exzellentes Essen und guten Wein. Ihr wart wunderbare Gastgeber. Unsere Familien- und Freundestreffen waren manchmal so laut, so lebendig, daß Neuankömmlinge im allgemeinen Redefluß ein wenig verängstigt verstummten. Wir hatten uns immer viel zu sagen. Du hast dich interessiert für deine Familie, für deine Enkel. Nachts hast du oft im Bett gelegen, bist in Gedanken jeden einzelnen durchgegangen, und wenn es einem von uns einmal nicht so gutging, hast du ihm »deine Strahlen gesendet«. Du hast an unserem Leben Anteil genommen und wir an deinem. Jedes Enkelkind kennt deine berühmte, etwas sorgenvolle Frage: »Kocht ihr euch eigentlich manchmal was?«
Das überernste Bild, das in der Öffentlichkeit oft von dir gezeichnet wurde, gibt nur sehr unzureichend wieder, wie wir dich erlebt haben. Du konntest sehr witzig sein, hattest einen Hang zur Selbstironie, manchmal auch zum Konsum von trivialen Fernsehserien und hast eine gutgemixte Margarita sehr geschätzt.
Ich erinnere mich, wie wir in Woserin beieinandersaßen und ich über meine Nöte berichtete, ein paar Journalisten zu einem Gesprächskreis zusammenzuführen. »Es gibt nichts, was wir gemeinsam wollen«, habe ich damals gesagt. Deinen Blick, Omi, werde ich nie vergessen, etwas zwischen Mitleid und Unverständnis. Du hast immer viel gewollt, und das mit möglichst vielen gemeinsam. Du hast dich ausgesetzt, so sehr, daß wir als Familie oft um dich und deine Gesundheit fürchteten. Psychische Schmerzen entluden sich bei dir meist sogleich im Körper.
Du und Opa habt mir einmal lange über eure Kämpfe in der Vergangenheit erzählt, wie sich Schriftstellerkollegen, Freunde, enge Vertraute gegenseitig anfeindeten, fertigmachten aus ideologischen Gründen. Und wie danach keine Versöhnung mehr möglich war. Freundschaften haben dir viel bedeutet, und wie oft sind sie aus politischen Gründen zerbrochen. Für uns Nachkommende sind diese Auseinandersetzungen, ihre Radikalität und Brutalität kaum zu begreifen. Manchmal beneide ich euch um die Tiefe, die Existentialität eurer Gefechte. Oft bin ich froh, und ich glaube alle anderen Enkel auch, daß ich ein paar deiner Kämpfe nicht führen, ein paar deiner Entscheidungen nicht treffen mußte. Und ich bin stolz darauf, daß du die Kraft dazu irgendwie hattest. »Wenn ich nichts gesagt hätte, hätte
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