Wohin sind wir unterwegs
Operation, von der er nicht zurückkam, und hat ihm ein Goethewort geschickt, das sie auch mir einmal gesagt hat und das ich so manches Mal weitergegeben habe, an Menschen, die ich liebte: »Ich weiß, daß mir nichts angehört als der Gedanke, der ungestört aus meiner Seele will fließen, und jeder günstige Augenblick, den mich ein liebendes Geschick von Grund aus läßt genießen.«
GERHARD REIN
Nachmittags klingelte es an der Tür. Sie müsse reden. Sie kam mit ihrer Tochter aus dem Osten der Stadt in den Westen, nach Friedenau, in die Hauptstraße. Tinka und Gudrun setzten sich in die Küche. Ich holte zwei Mikrofone. Im Eßzimmer begann das Interview mit Christa Wolf, am 8. Oktober 1989. Das, was sie sagen wollte, sollte zurück in die DDR wirken. Das ging an diesem Tag und an vielen Tagen zuvor, und Monaten und Jahren zuvor, direkt nur über die westlichen Radiosender.
Der Deutschlandfunk änderte sein Programm und brachte das Interview abends um halb acht. Und am nächsten Tag fast alle anderen Radioprogramme im Westen. Christa Wolf appellierte an die Herrschenden, die Gesprächsbereitschaft doch anzunehmen, die von den oppositionellen Gruppen ausging. Was Christa Wolf am meisten erschütterte, war ein Satz des Staatsratsvorsitzenden: »Wir weinen denjenigen, die weggehen, keine Träne nach.«
Vielleicht ahnte sie, daß dieser eine Satz, diese offene Verhöhnung, mehr als jeder andere Satz dazu beitragen würde, den Rest an Loyalität zu zerstören, der möglicherweise noch vorhanden war. Sie hielt ein Blutbad für möglich und wollte die minimale Chance nutzen, um zu vermitteln. Tausende junger Leute verließen nach wie vor das Land, in das sie nach dem Interview mit dem Westjournalisten besorgt zurückkehrte.
Das war ja meine Berufsbezeichnung in der DDR . Ein Westjournalist. Die meisten der Bücher von Christa Wolf hatte ich gelesen, sie hatten meinen Wunsch ungemein bestärkt, sie kennenzulernen. Aber anfangs habe ich da Vorsicht, Abwarten und Distanz gespürt. Kann man dem trauen? Was würde er schreiben und was senden?
Und ich konnte der mir so wichtigen Frau auch nicht gelassen und entspannt begegnen. Nervös war ich immer, wenn wir uns trafen. Das hat sich dann gelegt, vor allem durch sie, durch ihre Freundlichkeit und ihre Anteilnahme an meinem Leben. Gelegentlich schickte sie mir Billets: kleine weiße Briefkarten, auf denen sie kurze Botschaften schrieb und mich wissen ließ, was sie dachte, wenn ich, polemisch, meine Freunde im östlichen Teil des Landes öffentlich dazu ermunterte, nicht »anzukommen« im Westen, sondern ihren Weg als kritische Menschen fortzusetzen und ihre Würde und ihr Selbstbewußtsein zu behaupten, auch in der Demokratie.
»Manchmal«, schreibt mir Christa Wolf im September 2009, »manchmal denkt man ja schon, man sieht alles verkehrt – da bin ich gerne in Ihrer Gesellschaft.«
Mehr Ermutigung ist nicht denkbar. Nicht für mich. Ihre Nähe, ihr Vertrauen, zuletzt in diesem Sommeran zwei wunderbaren Tagen Mitte August in Woserin, haben mich überwältigt. Die spröde Stimme, die ich so liebe, die Wärme, mit der sie Freunde umhüllte, die will ich nicht vergessen.
ALAIN LANCE
Als ich am Morgen des 1. Dezember ins Auto stieg, spielte im Radio der »Bolero« von Ravel. Auf dieselbe Musik tanzte Arila Siegert zur Feier von Christas 80. Geburtstag hier in der Akademie. Die Wiederholung des Ostinatos begleitete meine düstere Vorahnung.
Andere, hellere Bilder kommen mir in den Sinn, wenn ich an die Treffen mit Christa und Gerhard denke, angefangen beim ersten Mal in Paris 1971, als ich ein Essen mit Meeresfrüchten servierte, für Wolfs eine Entdeckung und ein Genuß.
Die frühen Werke waren schon auf französisch erschienen, als Renate und ich Anfang der achtziger Jahre »Kein Ort. Nirgends« und »Kassandra« übersetzten. Ich hatte damals einen sonderbaren Traum: Christa hielt unsere »Cassandre« in der Hand und sagte mit einem verschmitzten Lächeln: »Das ist eine gute Übersetzung, meine Lieben, ich habe sie ins Deutsche zurückübersetzen lassen, um es nachzuprüfen.«
In Wirklichkeit hat uns Christa Vertrauen entgegengebracht, ebenso wie den anderen Übersetzerinnen und Übersetzern, und auch dem kleinen Verlag Alinéa, wo in meiner deutschen Reihe sieben Titel von ihr erschienen. Als 1985 die Übersetzung von»Kassandra« herauskam und das Werk dazu auf dem Programm für die germanistische Lehramtsprüfung stand, kamen Wolfs zu Besuch. Ein paar Jahre
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