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Wohin sind wir unterwegs

Wohin sind wir unterwegs

Titel: Wohin sind wir unterwegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zum Gedenken an Christa Wolf
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dieser »Stadt der Engel« eine Szene immer wieder berührt, besonders berührt, nämlich die Nacht in ihrem Hotel in Santa Monica, als das Fax aus Berlin wieder Unrat ausgespuckt hatte und sie sich so angegriffen, so gedemütigt, so in Gefahr fühlte, daß sie ratlos war, nicht mehr wußte, was sie tun sollte. Sie hat dann, so beschreibt sie es, den »heiligen Fleming« mit in ihr Bett genommen, den Barockdichter, der mitten im Dreißigjährigen Krieg das Gedicht geschrieben hat, von dem hier vorhin die Rede war und das wir heute früh bei der Trauerfeier hören konnten: »Sei dennoch unverzagt«. Sie hat sich die Strophen dieses Gedichtes immer wieder vorgesagt, bis sie sie alle auswendig konnte, so beschreibt sie es. »Es war aber«, so schreibt sie, »erst Mitternacht. Was jetzt. Da fing ich an zu singen.« Und nun stehen zweieinhalb Seiten in diesem Buchhintereinander die Liederanfänge da, von »Ade nun zur guten Nacht« bis zu »Kein schöner Land in dieser Zeit«, von »Im Frühtau zu Berge« bis »Dat du min Lewsten bist«, eine ganze lange Reihe, pausenlos lag sie und sang und sang, bis der Morgen kam und sie einschlief. Immer wieder sind mir beim Lesen dieser Szene die Augen naß geworden. Das Singen, auch davon war vorhin schon die Rede, bei Ulla Berkéwicz und nachher, das Singen spielte eine große Rolle, und wer je das Glück gehabt hat, mit ihr einmal über Land zu fahren, der hat es erlebt, wie fröhlich sie dabei auch sein konnte, wie ununterbrochen sie auf neue Lieder kam, »Die Gedanken sind frei«, »Geh aus mein Herz und suche Freud«. Zuletzt habe ich das erlebt auf dem Rückweg von Lübeck, wo sie selbst schon unter großen Schwierigkeiten, körperlichen Schwierigkeiten, die wunderbare Rede zum Empfang des Thomas-Mann-Preises gehalten hatte und nun erleichtert und so wie früher singend heimfuhr. Die Schwere dieses Aufenthalts in Lübeck wurde auch hier abgefangen durch die Familie, die um sie war. Die Familie, auch das haben wir heute einige Male hören dürfen, was Familie bedeutete für sie. Sie hat mir mehrmals gesagt: »Wenn ich je die Wahl hätte treffen müssen, mich zwischen dem Schreiben und der Familie zu entscheiden, ich hätte selbstverständlich die Familie gewählt.« Aber Mittelpunkt dieser Familie ist Gerhard. Er ist es 60 Jahre lang gewesen, ihr Liebster, ihr Freund, ihr Förderer,ihr Beschützer, ihr Korrektor, ihr Kollege. Sie haben miteinander geschafft, und sie haben sich nichts geschenkt, aber sie haben sich beschenkt. 60 Jahre, eine Symbiose, aber eigentlich ist das zu gering gesagt, denn mit dem Wort Symbiose verbindet sich ja doch auch ein gewisser materieller Zusammenhalt, und hier war mehr als nur Lebensnotwendigkeit. Es war, man kann es nicht anders sagen, es war Liebe, Liebe im schönsten alten Sinn. Irgendwann einmal, als wir über die schreckliche Zeit des »Literaturstreits« sprachen, betonte sie, wie er ihr darüber hinweggeholfen habe, und sie sagte: »Ich hoffe nur, ich habe ihn nicht beschädigt.« Ach Christa! Nun, ein Versprechen, das sie sich vor 60 Jahren gegeben haben, beieinander zu sein, for better, for worse, bis daß der Tod euch scheide. Es ist nicht nur die Liebe zu einem, es ist das Menschsein. Immer. Sie war nicht jemand, der anderen mit überströmender, unverbindlicher Herzlichkeit an die Brust fällt. Sie wartete ab, aber sie hörte hin, sie verstand Menschen, und sie tat etwas, wenn es ihr notwendig erschien. Ich war einmal in einer sehr verzweifelten Situation, die mich wirklich auch vor die schrecklichste Alternative stellte. Sie telefonierte aus irgendeinem Grunde, hörte wohl an meiner Stimme, daß es mir nicht gutging, obwohl ich kein Wort über mich sagte. Sie fragte, und ich wehrte ab. Zwei Stunden später stand ein Taxi vor der Tür. Sie war aus Pankow nach Dahlem gekommen. Wir haben drei Stunden miteinander geredet, und ich war wieder gesund. »Tu, was getan muß sein, und eh man dir’s gebeut.« Das hat sie getan, immer, obwohl sie sich der Fragwürdigkeit menschlichen Tuns sehr wohl bewußt war. In einem Brief an Günter Gaus, mit dem und dessen Frau sie innig befreundet war, er war seinerzeit inmitten dieses »Literaturstreites« nach Los Angeles geflogen, nach Santa Monica und hatte mit ihr ein denkwürdiges Gespräch »Zur Person« geführt – ich habe es mir heute noch einmal angeschaut und war von seinen Fragen und ihren Antworten beeindruckt wie damals –, ihm hat sie geschrieben, als er ins Krankenhaus ging zu einer

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