Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
sie in der Menge nicht zu unterscheiden gewesen. Nun konnte man sie als Ausländerin ausmachen. Diesen Wandel betrachtete sie als eine der ärgsten Auswirkungen ihres durch den Schlaganfall bewirkten Verfalls. So wie sie von ihrem geschrumpften, schlecht funktionierenden, unbeholfenen Körper entsetzt war, so hasste sie ihre neue Stimme.
Wie üblich war sie sehr zurückhaltend über ihre Vergangenheit, als sie im Jahr 2000 in der National Gallery of Australia ihren letzten öffentlichen Vortrag hielt. Als sie erläuterte, weshalb sie bei der Vorbereitung der Ausstellung secessonistischer Kunst durch die Galerie mitgewirkt hatte, sagte sie einfach: »Da ich Deutsch sprach und einige Kontakte mit der secessionistischen Bewegung gehabt hatte, durfte ich behilflich sein.« Sie erwähnte nicht, dass sie mit einer weit bedeutenderen secessionistischen Sammlung aufgewachsen war, als die Galerie zu zeigen hatte. Ähnlich lautete ihr Bericht darüber, wie die Wiener Juden auf den Aufstieg Hitlers reagiert hatten. Ihre Familie vor Augen, beschrieb sie, wie »diejenigen, die die Nationalsozialisten hassten, keinen Begriff davon hatten, was sie erwartete, sollten die Nazis an die Macht kommen. Schließlich, so sahen sie es, hatten sie ja nichts Böses getan. Sie fühlten sich wohl in Wien und hingen an der Stadt.« Sie verriet nicht, dass sie dort gewesen, ganz zu schweigen davon, dass sie hellsichtiger gewesen war.
Ungern verriet sie, dass sie jüdische Verbindungen hatte, da sie sich immer noch vor Verfolgung fürchtete. Sie glaubte, der Antisemitismus würde nie verschwinden, und deshalb sollten Juden auch keine Aufmerksamkeit darauf lenken, was sie waren. Wenn sie ihr Judentum schon nicht ablegten, dann sollten sie es zumindest verbergen. Anne war sehr erfreut, dass Bruce und ich Kinder mit nichtjüdischen Partnerinnen hatten. Sie bestärkte uns so sehr darin, unsere Herkunft zu verschleiern, dass Bruce sich erinnert, Angst gehabt zu haben, als er seiner zukünftigen Frau Rae davon erzählte. Anne glaubte, erfolgreiche Juden, die Reichtum und Macht offen zur Schau stellten, würden aufreizend wirken, und war entsetzt, wenn sie sich unredlich oder schäbig verhielten. Es bestärkte sie in der Ansicht, dass sie nichts aus der Geschichte gelernt hätten. Sie fürchtete, dadurch würden sie allen Juden noch mehr Verfolgung zuziehen.
Anne in Canberra. 2002. Foto von Jon Rhodes. 7
Die jüdische Vergangenheit der Gallias konnte sie nicht leugnen, sie war 1938 aus Wien gekommen, und das machte sie als Flüchtling kenntlich. Aber sie ließ alle, auch Bruce und mich, glauben, dass sie, da Gretl schon als Mädchen zum Katholizismus konvertiert war, selbst als Katholikin geboren und erzogen worden sei. Erst als ich sie bat, etwas über ihr Leben zu schreiben, erfuhr ich, dass sie bis zu ihrem sechzehnten Lebensjahr Jüdin gewesen war. Hätte sie sich nicht gezwungen gefühlt, in ihrer Geschichte so aufrichtig wie möglich zu sein, sie hätte es mir gar nicht gesagt. Meinem Vater Eric, mit dem sie fünfzehn Jahre lang verheiratet war, oder ihrer ältesten Freundin Gerty, die sie viel länger kannte, hatte sie es nicht erzählt. Sie beide erfuhren es erst lange nach ihrem Tod, als ich es ihnen mitteilte. Sie hatten es nie vermutet, so verschwiegen war Anne in dem Versuch, ihr zu entkommen, über ihre Vergangenheit gewesen.
Als ich nach meiner Landung am Wiener Flughafen das Opern- und Theaterprogramm der Woche studierte, schien mir eine »Lohengrin«-Aufführung besonders verlockend. Anne hatte aus Bruce und mir bei unserer ersten Europareise 1971 begeisterte Opernbesucher gemacht; Wagner allerdings war die bemerkenswerte Ausnahme. Wir hatten alle wichtigen Mozart-Opern und die meisten von Verdi gesehen, von Wagner aber nur »Tristan und Isolde« in West-Berlin; Anne fand die fünfstündige Aufführung unendlich lange, die Handlung albern und die Sänger abstoßend »arisch«. In den 34 Jahren seitdem hatte ich nichts mehr von Wagner gesehen, ich hielt sein Werk für unrettbar von seinem Antisemitismus befleckt. Doch ich wusste, es würde gut für dieses Buch sein, wenn ich hinging.
Einen Tag später entdeckte ich eine Alternative. Während in der Staatsoper »Lohengrin« aufgeführt wurde, veranstaltete die Israelitische Kultusgemeinde im Stadttempel ein Gedenkkonzert mit Kantoren zum sechzigsten Jahrestag der Befreiung von der Naziherrschaft 1945. Besuchte ich dieses Konzert, dann würde ich zum ersten Mal jüdische Musik zu
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