Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
Vom Netzwerk:
beinahe alle Sachen noch vorhanden waren, hätte sie gerne gewusst, was daraus geworden war. Und nun schickte Frau Wick Anne die Puppe als Weihnachtsgeschenk, noch unter dem originalen Glassturz, wenn auch ein Arm fehlte. Als wir uns den Sockel ansahen, entdeckten wir, dass Moriz sie als Dank für die Zeichnung von Kriegsanleihen bekommen hatte – eine Manifestation des Patriotismus, der den Gallias in Österreich nicht geholfen hatte. Anders als die Kaffeetassen stellte Anne die Puppe zur Schau und gab ihr einen Ehrenplatz in ihrer Vitrine neben ihrem Liebling, dem Nickchinesen.

Identität
    BEINAHE ALLE ÜBERLEBENDEN des Holocaust, ob sie nun geflohen waren, den Krieg in Verstecken überlebt hatten oder im Konzentrationslager gewesen waren, überdachten ihre Identität neu. Das Spektrum reichte von einer stärkeren Hinwendung zum Judentum bis zur Verleugnung der eigenen jüdischen Herkunft. Am einen Extrem konnten sie sich öffentlich voller Stolz zu ihrer Rasse und Religion bekennen und damit implizit, wenn nicht explizit, zeigen, dass sie sich nie wieder dem Antisemitismus kampflos ergeben würden; am anderen konnten sie sich eine völlig neue Identität aufbauen, in der Hoffnung, wiederaufflammender Intoleranz und Verfolgung zu entgehen; sie nutzten die Möglichkeiten, sich neu zu gestalten, die mit dem Umzug in ein Land verbunden waren, wo man sie nicht kannte, wo der Judaismus weit weniger ein Thema war als in Europa und das Juden-Erkennen weder eine Kunst noch eine Obsession bildete.
    Das bekannteste Beispiel einer solchen Neuerfindung ist Madeleine Albright, die erste Außenministerin der USA. Wenige Tage, nachdem der Senat 1997 ihre Ernennung bestätigt hatte, enthüllte die
Washington Post
, dass zwei von Albrights Großeltern in Theresienstadt, einer in Auschwitz gestorben war. Laut Albright, 1937 als Katholikin in Prag geboren, hatte sie nichts davon gewusst. Ihre Eltern hatten ihr gesagt, sie seien vor dem Krieg mit ihr vor den Nazis aus der Tschechoslowakei geflohen; erst 1996, als ihr jemand einen Brief über die Vergangenheit ihrer Familie schickte, realisierte sie, dass ihre Eltern möglicherweise jüdische Konvertiten gewesen waren. Selbst dann noch ahnte sie nicht, wie ihre Großeltern gestorben waren. Später meinte sie: »Wenn man als Achtjährige hört, die Großeltern seien gestorben – Großeltern sind doch alte Leute –, dann stellt man keine Fragen.« Sie bezweifelte nie den Bericht ihrer Eltern, denn sie »machten nie ein geheimnisvolles Getue oder zögerten«.
    1997 reagierte man weitum skeptisch. Albright beschrieb es so: »Die Leute konnten nicht glauben, dass ich nichts über die Vergangenheit meiner Familie wusste. Anstatt dass man mir erlaubt hätte, für mich privat die tragischen Fakten zu verarbeiten, von denen ich erst kürzlich erfahren hatte, gab man mir das Gefühl, ich wäre eine Lügnerin, und mein angebeteter Vater wurde als herzloser Schwindler hingestellt.« Philip Taubman schrieb in der
New York Times
einen Artikel, der mit den Worten begann: »Madeleine Albright muss es gewusst haben.« Und Frank Rich deutete in derselben Zeitung an, dass Albright »die Wahrheit verschleiert hatte«. Doch manche gestanden zu, dass Albrights Eltern nicht die Einzigen gewesen waren, die ihre Identität verbargen. Der Direktor der Anti-Defamation League, Abraham Foxman, meinte: »In Polen tauchen jeden Tag Juden auf, die sich ihr ganzes Leben lang für Katholiken gehalten haben.«
    Nicht nur in Polen. Viele Exilanten, die nach ihrer Flucht heirateten oder noch einmal heirateten, erzählten ihren neuen Familien wenig oder nichts von ihrer Herkunft. Als einer meiner Kollegen noch ein Junge war, gestand sein Vater, dass er Jude sei, verriet aber nicht, woher er kam oder was er erlebt hatte. Hugh fragte seinen Vater, warum er ihn in eine anglikanische Schule schickte, worauf er antwortete: »Mein Sohn, keine Religion ist es wert, dass man für sie stirbt.« Als eine von Mizzis Cousinen in den 1960er Jahren nach Sydney kam, suchte sie einen Verwandten auf, der seit mehr als zwanzig Jahren verheiratet war. Beim Abendessen flüsterte er ihr zu, als seine Frau kurz in der Küche verschwand: »Verrate ihr nicht, dass ich Jude bin. Ich hab’s ihr nie gesagt.«
    Andere gaben keine Erklärung über die Toten ab. Wie Madeleine Albrights Eltern in den Vereinigten Staaten sagten Guido Hamburger junior und Anna Schauer in England ihren Kindern nicht, was mit Guido senior und Nelly oder Annas Eltern,

Weitere Kostenlose Bücher