Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
können, dann hätte sie bloß ihre Mutter behalten. Sie hatte sich zwar eine so große Anhänglichkeit an die Landschaft ihrer Kindheit bewahrt, dass sie sich »Sound of Music« ansah, wann immer es im Fernsehen lief, und hatte eines ihrer Bilder der Karlskirche im Schlafzimmer hängen, aber Wien lehnte sie ab; es sei zu »überheblich« und erzähle »zu viele Lügen über seine Vergangenheit«. Obwohl sie das in Canberra schrieb, einer Hauptstadt, die nur ein Sechstel so groß war, gab sie den Gemeinplatz von sich, Wien sei »zu provinziell«. Und sie fuhr fort: »Ich hätte gern einen Vater gehabt, den ich gern haben könnte, oder gar keinen. Jüdin zu sein hätte ich mir sicher nicht ausgesucht. Es wäre besser für mich gewesen, wären wir weniger reich und deswegen isoliert gewesen.«
Ihre Kindheit in der Wohllebengasse betrachtete sie als den schlimmsten Teil ihres Lebens, noch traumatischer als ihre Erfahrungen unter den Nazis nach dem »Anschluss«. Ihr Bericht von ihren ersten vierzehn Jahren bis zum Tod Hermines ist nicht nur von Ressentiment, Beklommenheit und Angst getränkt, sondern auch von einem deutlichen Bewusstsein, wie sehr die Umstände ihrer Erziehung sie dauerhaft geschädigt hatten. Und die Erzählung vom Leben unter den Nazis vermittelte den Schock und Horror, plötzlich verfolgt zu werden und fliehen zu müssen. Sie gab auch zu, dass ihre Einstellung anderen Menschen gegenüber von ihrer »Hitler-Erfahrung« getönt worden sei. Ansonsten behandelte sie diese Erfahrung, als wäre es nichts Besonderes gewesen, da so viele Nazi-Opfer viel Schlimmeres durchgemacht hatten und sie das Glück gehabt hatte, den ständigen Kriegen, Völkermorden und Verfolgungen zu entkommen. Sie schrieb: »Es ist eine entsetzliche Welt voller Hass und Methoden der Zerstörung. Persönlich habe ich kaum etwas davon erlebt.«
Wie viele andere Flüchtlinge war sie der Ansicht, ihr erzwungener Weggang sei ein Gottesgeschenk gewesen. Das einzig Gute an ihrem Jüdischsein sei, so schrieb sie, dass sie deswegen nach Australien gekommen sei. Sosehr sie an der europäischen Kultur und Landschaft hing, sie war unendlich dankbar für die Chance, ein neues Leben zu beginnen: die Möglichkeit, so sah sie es, sie selbst zu sein. Sie beendete ihre Geschichte mit der Erklärung, dass sie in Australien viel glücklicher sei, als sie es je in Österreich geworden wäre. Bis die Regierung von John Howard politisches Kapital aus Flüchtlingen zu schlagen begann und bei den Wählern durch ihre schlechte Behandlung von Bootsflüchtlingen aus Afghanistan und dem Irak punktete, die via Indonesien Australien zu erreichen versuchten, war sie stolz, Australierin zu sein.
Diese Anhänglichkeit wurde 1990 manifest; damals führte Österreich als verspätete Anerkennung für das Erlittene monatliche Pensionszahlungen für überlebende Flüchtlinge ein, die als Kinder geflohen waren. Anne stellte jahrelang keinen Antrag, da sie sich Österreich auf keine Weise verpflichtet fühlen wollte. Dann entschied sie, die Pension biete eine Möglichkeit, etwas von der Gesellschaft zu nehmen, die sie ausgestoßen, und es jener zu geben, die sie aufgenommen hatte. Bis zu ihrem Lebensende verteilte sie diese Pensionszahlung auf mehrere australische Hilfsorganisationen. Dasselbe tat sie mit den kleinen Zahlungen, die sie vom von der österreichischen Regierung 1995 ins Leben gerufenen Nationalfonds für die Opfer des Nationalsozialismus erhielt.
Ihre Entscheidung, dieses Geld zu spenden, hatte auch mit der Ablehnung ihrer privilegierten Vergangenheit zu tun. Mizzi hatte einmal bemerkt, Anne kämpfe »mit dem Stigma, aus einer reichen Familie zu stammen«, und es war ihr sehr daran gelegen, anders zu leben; ein bewusstes Vergnügen war es ihr, sich vorzustellen, wie entsetzt Hermine über vieles, was sie tat, gewesen wäre. Sogar in ihren Sechzigern und Siebzigern reiste Anne immer noch mit einem Rucksack. Bis in die letzten Jahre ihres Lebens übernachtete sie in billigen Hotels. Sie mied gute Restaurants, da sie sich ungern bedienen ließ. Ihr letztes Appartement war so bescheiden, dass die Regierung, die es nach ihrem Tod gekauft hatte, es als Sozialwohnung verwendete.
Ihr ständiger Ehrgeiz war es, unauffällig zu sein. Nachdem sie sich so angestrengt hatte, nach der Ankunft in Australien ihren Akzent loszuwerden, war sie bestürzt, als in den letzten Monaten ihres Lebens Taxifahrer sie zu fragen begannen, woher sie käme. Mehr als sechzig Jahre war
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