Wokini oder die Suche nach dem verborgen Glück
Wüste stand. Aber warum? Was war ihm widerfahren?
Die Antwort kam einige Augenblicke später. David nahm in den Augen des Mannes eine tiefe Trauer wahr, die den Mann umbrachte. Sie laugte ihn aus, ließ ihn vor Schwäche altern und würde ihm si cherlich in wenigen Stunden das Leben rauben. Der Gedanke daran betrübte David noch mehr. Selbst der Mann konnte in dieser Wüste nicht glücklich sein. David hustete Sand aus, der ihm den Hals hin untergerieselt war. Dann fragte er mit rauer Stimme: »Warum bist du gekommen?«
»Ich bin gekommen, weil ich gebraucht werde«, antwortete der Mann.
»Du bist hier, um mir zu helfen?«
Der Mann nickte. Er bot ihm nicht seine Hand. David hustete er neut. Diesmal schnitt ihm das Husten in die ausgetrocknete Kehle.
»Hast du Wasser? Ich muss trinken. Das ist das Einzige, was mir jetzt helfen kann.«
Der Mann schaute verwirrt um sich. Er seufzte und erklärte dann:
»Überall um dich herum ist Wasser. Kannst du es nicht sehen?«
»Da ist kein Wasser«, keuchte David.
»Wenn du es nicht sehen kannst, wirst du es niemals finden«, erwi- derte der Mann kopfschüttelnd. Er blieb noch ein paar Sekunden bei David stehen, drehte sich dann um und entfernte sich. Da Davids Kehle völlig ausgetrocknet war, brachte er kein Wort heraus. Er konnte nur den Kopf heben und beobachten, wie der Mann in der heißen Luft der Wüste verschwand.
David schloss die Augen. Er hatte die Gegenwart des Mannes ne ben sich gespürt und war dann allein gelassen worden, ohne Hilfe zu bekommen. Doch dessen Erscheinung veranlasste ihn, über sein Le ben und dessen Sinn nachzudenken. Hatte irgendetwas darin eine Bedeutung?
Ja, etwas fiel ihm ein.
Er dachte an seinen Hund. David war erst drei, als Korak ins Haus gebracht wurde. Sie wuchsen zusammen auf. Jahrelang hatte Korak auf ihn aufgepasst. In gefährlichen Situationen brachte er David in Sicherheit und zeigte ihm den richtigen Weg, wenn er sich verlaufen hatte. Korak aber wurde alt. Seine Hinterbeine waren von Arthritis befallen und manchmal musste David ihm helfen, die Treppe hochzu steigen. Sein Hund brauchte ihn jetzt – David musste ihn beschützen. Dazu war nur er fähig, denn der Hund gehörte ihm allein. Einen Augenblick lang lächelte er. Er würde alles geben, um Korak noch ein einziges Mal wieder zu sehen.
Plötzlich, ohne jede Ankündigung, fielen die ersten Regentropfen.
David erwachte, als gerade die Sonne aufging. Er wusste nicht gleich, wo er sich befand, und war verwirrt, während er auf die andere Seite rollte. Als er sich aufsetzte und nach draußen schaute, sah er den Mann im Garten arbeiten. David lächelte. Der Mann hatte etwas, das ihn zu einem außergewöhnlichen Menschen machte. David fragte sich, was er heute wohl lernen würde.
Der Mann streckte die Hände zur Sonne. Er wusste, dass der junge Indianer wach war, und bewegte sich Richtung Haus. David tauchte in dem Moment auf, als er sich der Tür näherte.
»Komm«, sagte der Mann lächelnd, »heute müssen wir von Mutter Erde lernen.«
Die beiden gingen lange schweigend nebeneinanderher. Bisweilen dachte David an seine Schwester, doch er war nicht mehr verzweifelt. Er vermisste sie sehr und liebte sie aus ganzem Herzen, wusste aber auch, dass sie bei ihm war, ihn unterwies und zum Glück führte. Vor allem aber half sie ihm, sich besser zu fühlen! Zum ersten Mal seit langer Zeit war er wieder überzeugt, sein Leben in den Griff zu bekommen. Sie hatte ihn dabei unterstützt, die Lektionen der ersten drei Bilder auf der Rolle zu lernen, und zweifellos würde er auch die restlichen Lektionen verstehen. Sein Vater hatte Recht – die Rolle konnte ihm tatsächlich alles beibringen, was er über das Glück wissen musste. Er war dankbar dafür, dass seine Schwester ihn der Wahrheit näher brachte.
Aber noch aus einem anderen Grund ging es ihm besser. Er wusste, dass er in Gesellschaft eines Menschen war, der sein weiteres Leben grundlegend ändern würde – obwohl er nicht genau sagen konnte, in welcher Weise. Die letzte Nacht war nur ein Beispiel – das erste von vielen, wie David ahnte. Der Mann war ihm im Traum erschienen und hatte ihn gerettet. Aber warum? Konnte es sein, dass David sich nur jetzt besser fühlte, später aber, nachdem er von hier fort war, nicht mehr? Oder war der Mann Davids neuer Schutzengel? Und, schlimmer noch, glaubte Wakantanka , dass David unfähig wäre, seine Verzweiflung ohne fremde Hilfe zu überwinden? David schwankte, fasste aber einen
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