Wolfs Brut: Kommissar Kilians zweiter Fall
und hob die Tasse zum Anstoßen.
Galina nahm die ihre: »Worauf wollen wir trinken?«
Julia überlegte. Dann fiel es ihr ein: »Wie wär’s mit dem Leben. Ja, lass uns auf das Leben anstoßen. Es ist so schön. Jeder sollte die Freiheit haben, das seine zu wählen, und es mit aller Leidenschaft leben. Bis zum letzten Tropfen.«
Galina stimmte zu, und so stießen die beiden auf ein Leben voller Leidenschaft an. Als Galina ihre Tasse absetzte, entdeckte sie auf dem Boden einen von Julias Groschenromanen. Sie nahm ihn in die Hand und las den Titel vor: »Mord im Hochhaus. Seit wann liest du denn Krimis? Ich dachte, du stehst mehr auf Liebesgeschichten. Doktor Schiwago und so. Viel Herz und Schmerz.«
Julia lächelte. »Das ist das Gleiche. Krimis und Leidenschaft. Eine bessere Kombination gibt es gar nicht. Gerade heute habe ich eine neue Geschichte gehört. Von den Dünen. Du weißt schon. Soll ich sie dir erzählen?«
»Wenn du magst. Zeit haben wir ja genug.«
»Okay«, sagte Julia und begann mit der Geschichte, die ihr die Dünen erzählt hatten. »Also, alles beginnt ein paar Tage vor Allerheiligen. Du weißt schon, das Fest der Toten. Eine Frau kommt vom Friedhof und setzt sich in ein Café. Sie ist traurig, weil sie ihren Liebsten verloren hat, der Jahre zuvor getötet worden war. Auf jeden Fall will es der Zufall, dass der Wind ihr eine Nachricht zukommen lässt, dass sein Mörder noch am Leben ist. Die Frau erschrickt natürlich fürchterlich und ist außer sich vor Wut. Was soll sie tun, fragt sie sich unaufhörlich. Soll sie bleiben, wo sie ist, oder soll sie Rache nehmen …«
»Rache. Natürlich geht sie den Mann suchen.«
»Richtig. Die Frau macht sich also auf den Weg, den Mörder zur Rede zu stellen, wieso er ihren Liebsten getötet hat …«
*
Würzburg, Hauptbahnhof. Drei Tage vor Allerheiligen.
Eine Hand rüttelte Julia wach.
»Würzburg«, sagte die nette Frau, die nachts zuvor in Hamburg zugestiegen war.
Verschlafen öffnete Julia die Augen und suchte sich zu orientieren.
»Sie wollten doch in Würzburg aussteigen?«, wiederholte die Frau die Aufforderung.
»Sind wir schon da?«, fragte Julia und blickte aus dem Fenster. Am Bahnsteig standen einige wenige Fahrgäste.
»Sie wollten doch, dass ich Sie wecke. Oder?«
»Ja, natürlich. Vielen Dank«, antwortete Julia. Sie zog eilends ihre Schuhe an, hievte den Koffer von der Gepäckablage und öffnete die Abteiltür.
»Ich wünsche, dass Ihnen gelingt, was Sie sich vorgenommen haben«, rief die Frau ihr nach.
Julia lächelte ihr dankbar zu. »Ich werde mein Möglichstes tun«, antwortete sie und lief den Gang entlang. Auf dem Bahnhofsplatz fragte sie einen Passanten nach dem Sitz der Regierung von Unterfranken.
»Immer geradeaus, die Kaiserstraße hinunter und dann links zur Residenz hoch. Von dort aus rechts, bis Sie zur Neubaukirche und dann noch mal rechts, bis Sie zum Petersplatz kommen. Dann stehen Sie genau davor«, sagte der Mann und eilte weiter.
Julia folgte der Wegbeschreibung und gelangte nach einer halben Stunde tatsächlich auf den Petersplatz. Aus dem obersten Stockwerk des Regierungsgebäudes drang der Lärm einer Feier herunter. Sie blickte sich um und sah auf der gegenüberliegenden Seite eine junge Asiatin auf dem Balkon stehen. Sie rauchte eine Zigarette und war in eine dicke Jacke gehüllt. Sie schaute zu ihr herunter und lächelte ihr zu.
Julia erwiderte das Lächeln und setzte ihren Weg fort. Kurz nachdem sie ihren Fuß auf die Straße gesetzt hatte, quietschten die Reifen eines Autos. Gleich darauf hörte sie den dumpfen Aufprall von Metall auf Metall. Der Fahrer der großen Limousine stieg aus und beschimpfte die verschüchterte Fahrerin des Kleinwagens. Diese saß erschrocken hinter dem Lenkrad und beobachtete fassungslos Julia, wie sie die Straße unmittelbar vor ihrer Stoßstange überquerte, als wäre nichts geschehen.
Julia ging auf den Eingang des Regierungsgebäudes zu, als ihr der Hausmeister bereits entgegenkam.
»Entschuldigen Sie, wo kann ich …«, fragte sie ihn.
»Später. Keine Zeit«, antwortete er ihr und lief auf den Unfallort zu.
Julia betrat das Gebäude und schaute sich Hilfe suchend um. Doch der Eingangsbereich war menschenleer. Sie ging auf die Treppen zu und versuchte im ersten Geschoss ihr Glück. Aber auch hier war niemand zu sehen. Als Lärm und ein Türenschlagen durchs Treppenhaus hallten, blickte sie den Handlauf empor und erkannte, wie jemand im Obergeschoss die Treppe
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