Wolfs Brut: Kommissar Kilians zweiter Fall
erinnern sollte, wenngleich Allerseelen erst am darauf folgenden Tag sein sollte. Kilian stimmte dem Ganzen um ihn herum stillschweigend und durch seine bloße Anwesenheit zu. Dafür verachtete er sich, da er seiner Überzeugung nicht treu geblieben war, kirchliche Rituale gleich welcher Art zu meiden, und sich zum Friedhofsgang hatte überreden lassen.
Seine Mutter Katharina sah die Sache anders. Sie strahlte vor Glück und Zufriedenheit, dass ihr Sohn sie an das Grab begleitete, in dem ihr Mann bestattet war. Sie erfasste Kilians Hand unvorbereitet, sodass er sich nicht mehr wehren konnte, und wartete auf das baldige Ende der Litanei. Seine Gedanken kreisten stattdessen um die nächsten Tage, in denen er eine Entscheidung treffen wollte, wie die nächsten Schritte seiner Zukunftsplanung aussehen sollten. Die Idee vom Dienst als Kriminalbeamter auf Lebenszeit hatte er insoweit an den Nagel gehängt, als dass er sich nicht mehr vom Wohlwollen eines Vorgesetzten oder eines Förderers abhängig machen lassen wollte. Die Erfahrung mit Schröder hatte ihm gereicht. Nie wieder, schwor er sich, nie wieder wollte er sich einer fremdbestimmten Gnade aussetzen. Nie wieder darüber nachdenken müssen, ob diese oder jene Entscheidung förderlich oder schädlich für die Karriere sein würde. Vorbei die Tage des Taktierens, vorbei die Zeit der Abhängigkeiten. Ab jetzt galt es zu leben, frei von Zwängen und Grenzen.
Das unaufhörliche Klingeln eines Handys riss ihn aus seiner stillen Andacht. Hatte man denn nicht mal mehr auf dem Friedhof Ruhe vor diesen nervenden Geißeln, dachte er sich. Die Gebete drohten unter dem Lärm ins Stocken zu geraten und die Veranstaltung länger als unbedingt nötig in die Länge zu ziehen. Er löste sich aus der festen Umklammerung seiner Mutter und machte sich auf die Suche nach dem Verursacher. Als er zu der Stelle kam, von der die Geräusche ausgingen, fand er mehrere Friedhofsbesucher vor, die hinter dem Grabstein eines verlassenen Grabes nach dem Handy suchten und es schließlich fanden. Er ließ es sich geben und betätigte den Antwortknopf.
»Ja, hallo?«, sprach er in den Hörer.
»Kilian?«, fragte eine Stimme.
Kilian zögerte. Schließlich: »Ja, und wer sind Sie?«
»Wir haben uns kurz kennen gelernt. Unter der Brücke.«
»Der Mann, der sich nicht zu erkennen geben wollte?«
»Ja, das bin ich.«
»Sie rufen zu einer ungünstigen Zeit an, an einem noch ungünstigeren Ort.«
»Ich mache es kurz. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass die Jagd zu Ende ist. Das, wonach wir alle gesucht haben, ist zerstört. Wir brauchen uns also keine Sorgen mehr zu machen.«
»Sie meinen über die Agenten und den Zugangscode?«
»Nein, das ist es nicht. Diese Jagd wird weitergehen. Es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist.«
»Was meinen Sie?«
»Ich glaube, Sie haben mich schon verstanden.«
»Hätten Sie mir das nicht später sagen können, ich stehe auf dem Friedhof, inmitten …«
»Ich weiß, aber die Situation ist günstig für ein Geschenk, das ich Ihnen noch machen wollte.«
»Das Handy?«
»Nein … etwas, das Ihre Ehre wiederherstellt.«
»Jetzt bin ich aber gespannt.«
»In dem Grab vor Ihnen finden Sie eine Leiche, die auf seltsame Weise verschwunden war. Ich habe mir sagen lassen, dass Sie deswegen eine Menge Spott ertragen mussten.«
»Woher wissen Sie …«
»Lassen Sie’s gut sein. Nichts passiert jemals, ohne dass wir davon wissen. Nun will ich Sie nicht länger aufhalten. Legen Sie bei Ihrem Gebet auch ein Wort für mich ein. Man weiß ja nie …«
»Ich danke Ihnen.«
Ein Klick auf der Gegenseite beendete das Gespräch. Kilian steckte das Handy in seine Tasche und ging den Weg zum Grab seines Vaters zurück. Er stellte sich wieder neben seine Mutter, ließ sich von ihr an die Hand nehmen und schloss die Augen. Er begann von fernen Ländern zu träumen.
Charles Mendinski legte den Hörer zurück auf die Gabel. Im Hintergrund rief jemand nach ihm und bat ihn auf die Bühne. Die Zuhörer warteten schon ungeduldig auf seinen Vortrag zum Thema »Internationale Sicherheit in Zeiten des Internets und der wachsenden Völkergemeinschaft«.
Mendinski betrat das Podium und eröffnete seinen Vortrag mit den Worten: »Sehr geehrte Damen und Herren. Die Zeiten des gegenseitigen Misstrauens und des Strebens nach Vorherrschaft sind seit dem Zusammenbruch der kommunistischen Idee gottlob vorüber …«
14
Der Wind von Westen strich sanft über die sandigen Dünen an der Küste.
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