Wolfsangriffe. Fakt oder Fiktion? (German Edition)
niedrigen Fluchtdistanz zum Menschen regelrecht gezwungen. Unfälle wie der in Schweden sind also auch in Schönbrunn vorprogrammiert. Ich sehe keinen Grund, warum das Gehege hier überhaupt betreten werden muss. Zudem erhält der Zoobesucher auch ein völlig verzerrtes Bild vom Verhalten und der Lebensweise des Wolfes. Eine artgerechte Gefangenschaftshaltung gibt es nicht. Wir sollten alle Kräfte und finanziellen Mittel nicht länger in Tierquälerei und Fehlbildung investieren, sondern in den Schutz des Lebensraumes der Wölfe in Freiheit.«
Die Organisation fordert ein generelles Verbot für das Betreten des Schönbrunner Wolfsgeheges und ein Auslaufen der Wolfshaltung in ganz Österreich.
Ich selbst habe während meines Ethologie-Praktikums 1991 im amerikanischen Forschungsgehege Wolf Park, Indiana, Wolfswelpen mit der Hand aufgezogen und auch regelmäßig die Wolfsgehege betreten. Die Streicheleinheiten und Wolfsküsse waren zugegebenermaßen ein Höhepunkt unseres Praktikantenlebens und für mich der Ausgangpunkt für meine unabhängige Wolfsforschung. Es ist nie etwas passiert – zum Glück. Wir waren uns aber durchaus der möglichen Gefahr bewusst und hielten uns an die von der Parkleitung ausgegebenen Verhaltensmaßregeln. Wir gingen nie alleine ins Gehege, sondern immer in Begleitung von zwei erfahrenen Mitarbeitern, meist in einer kleinen Gruppe von vier oder mehr Menschen. Zu den Wölfen durften nur Erwachsene, keine Kinder oder Jugendliche. Außerdem musste jeder, der das Wolfsgehege betreten wollte, kerngesund sein. Wölfe sind extrem sensitiv, was kleinste Bewegungen oder Veränderungen der Körpersprache eines Menschen (oder einer Beute) ausmacht. Selbst die kleinste Erkältung oder Verletzung führt dazu, dass sich ein Mensch anders verhält als normal. Selbst wenn es ihm nicht bewusst ist, die Wölfe bemerken es. So wurde einmal eine der altgedienten Tierpflegerinnen des Parks, Pat Goodman, von einem Wolf angegriffen, als sie mit einem Gipsverband am Arm das Gehege betrat. Dank der anderen Mitarbeiter geschah nichts. Die Pflegerin durfte erst wieder zu den Wölfen, als sie völlig gesund war.
Das Hauptrudel, das in Wolf Park erforscht wurde und zu dem wir auch Nahkontakt hatten, besaß eine stabile Rangordnung und war entspannt. Anders dagegen die Wölfe, die sich in einem nicht für Besucher zugänglichen Gehege befanden. Es waren sehr stürmische Jungwölfe, die sich im Alter von ein bis eineinhalb Jahren zwar noch streicheln ließen, jedoch schon sehr rüpelhaft waren. Hier mussten wir auf der Hut sein. Nachdem die Tiere geschlechtsreif wurden, war das Gehege für die Praktikanten tabu.
Gerade wegen meiner Erfahrung mit Handaufzuchten, war ich bis vor Kurzem noch ein überzeugter Verfechter der Sozialisierung von Zoowölfen auf Menschen. Durch den frühen Kontakt mit Menschen erleiden die Gehegewölfe später deutlich weniger Stress durch Besucher oder die nötigen Tierarztuntersuchungen. Inzwischen beginne ich ernsthaft, diese Praxis zu überdenken. Wölfe von Hand aufzuziehen kann nur allzu leicht dazu verlocken, sie als »zahme Kuscheltiere« zu betrachten und damit das Gefahrenpotenzial zu unterschätzen, das in ihnen – wie in jedem anderen Wildtier – steckt. Darüber hinaus stellt sich mir immer mehr die ethische Frage, ob diese Zurschaustellung nicht eine weitere »Ausbeutung« eines Wildtieres ist.
Ausgebrochene Zoowölfe
Wenn Zoowölfe ausbrechen, kann von ihnen durchaus eine gewisse Gefahr für Menschen ausgehen. Wie diese Tiere auf den Anblick von Zweibeinern reagieren, hängt unter anderem davon ab, wie sie aufgezogen wurden. Von Hand aufgezogene Wölfe sind Menschen gewohnt. Sie suchen nach einem Ausbruch möglicherweise deren Nähe. Dagegen sind Zoowölfe, die nicht von Hand aufgezogen wurden, scheuer und werden vermutlich die Nähe zu Menschen meiden.
Auch Deutschland hat seinen Teil an spektakulären Ausbruchsaktionen. Als Erik Zimens Wölfe 1976 aus ihrem Gehege im Nationalpark Bayerischer Wald ausbrachen, geriet ein ganzer Landstrich in Panik, obwohl die Tiere niemandem etwas zu Leide taten, außer dass ein Jungwolf einem kleinen Jungen die Hose zerriss und ihm einen Kratzer im Po verpasste, was die Presse sogleich ausschlachtete: »Nationalpark-Wolf zerfleischt kleines Kind« stand in der Zeitung mit den vier großen, roten Buchstaben.
In den letzten Jahren brachen in Deutschland einige Zoowölfe aus und überlebten teilweise monatelang unbemerkt in deutschen
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