Wolfsfieber
der Größe nicht sicher war. Ich leg-
te die Sachen auf die alte, zerschlissene Couch und suchte
noch nach einer warmen Jacke. Nach zwei Fehlgriffen fand
ich auch schon eine alte Arbeitsjacke, die eine Uni-Größe
hatte. Ich nahm mir die Sachen von der Couch und legte
alle Klamotten über meinen linken Arm. Beim Hinausgehen
musste ich an einem Spiegel vorbei, der mir trotz Dunkelheit
ein verfremdetes Bild meines Ichs zeigte. Der verwirrte, un-
ruhige Ausdruck in meinem Gesicht erschreckte mich dabei
am meisten.
Ich beschloss, meine Gedanken auf etwas anderes zu
konzentrieren. Schließlich wartete in der Küche Istvan auf
mich, der mich brauchte und dem ich meine Hilfe verspro-
chen hatte. Ich stürzte die Treppe hinunter und musste da-
bei sehr aufpassen, nicht hinzufallen. Vom Vorraum aus sah
ich den schwachen Lichtkegel und bewegte mich zaghaft
und aufgeregt darauf zu. Ich wollte den Raum ganz lässig be-
treten, so, als wäre gar nichts geschehen, und überlegte mir,
vielleicht ständig zu plappern, um meine Nervosität damit zu
überspielen.
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So setzte ich schon vor der Türschwelle zu einer Ansage
an.
„Da bin ich wieder. Ich habe ein paar passende …“
Der Rest meines Satzes blieb mir im Hals stecken. Er war
weg. Nichts. Kein Lebenszeichen in diesem Raum, außer
meinem eigenem. Alles war noch genauso, wie ich es verlas-
sen hatte. Die zerknüllten Tücher lagen auf dem Tisch. Die
Lampe leuchtete die beiden Stühle aus. Aber kein Istvan. Er
war zusammen mit meiner blauen Decke verschwunden. Ich
stand bewegungslos im Raum, die Kleidung noch immer im
Arm und spürte einen kalten Luftzug aus der Ecke. Die Hin-
tertür der Küche war nur angelehnt und schwang im Nacht-
wind hin und her. Er war verschwunden. Ohne ein Wort.
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2. Erste Begegnung
Ich stand wie betäubt vor dem Badezimmerspiegel und
versuchte, wieder zu mir selbst zu finden. Ein dumpfer
Schwindel zwang mich dazu, mich mit den Händen am
Waschbecken abzustützen. Ich stand ganz knapp davor zu-
sammenzuklappen. Der Schlafmangel und die außerge-
wöhnlichen Ereignisse dieser Nacht verlangten ihren Tribut.
War das alles wirklich geschehen? Hatte ich ihn tatsächlich
angefahren und niemanden verständigt? Was zum Teufel war
nur in mich gefahren?
Ich kannte mich selbst kaum wieder und der Spiegel be-
stätigte meine Befürchtung nur allzu deutlich. Die Refle-
xion zeigte mir das Bild einer fremden Frau mit zerzausten,
feuchtblonden Haaren, die so aussah, als würde sie jeden
Moment zu schreien beginnen. Jede Zelle meines Körpers
verlangte nach Schlaf, aber ich konnte nicht mal im Traum
daran denken, jetzt friedlich ins Bett zu gehen oder gar die
Augen zu schließen. Mir graute vor den Bildern, die ich se-
hen würde, und vor den Schuldgefühlen, die bestimmt Teil
meiner Träume sein würden. Eigentlich konnte ich nur eines
tun. Ich spritzte mir mehrmals eiskaltes Wasser ins Gesicht.
Das kühle Nass brannte auf meiner Haut, die vor lauter Auf-
regung noch immer glühte. Jetzt erst wurde mir bewusst,
dass ich noch immer meine Jacke trug. Wie seltsam. Ich
stand in meinem eigenen Haus vollkommen angezogen im
Badezimmer.
Es gelang mir, die Müdigkeit zu unterdrücken und das
Schwindelgefühl zu verscheuchen. Das musste ich sofort
ausnutzen. Ich ging zurück in die Küche, wo das Schlacht-
feld meiner Erstversorgung noch immer auf mich wartete,
und schloss die Tür, die noch immer hin und her schwang.
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Mein Körper schaltete auf Autopilot wie immer, wenn ich
völlig fertig war. Meine Hände griffen nach dem Abfalleimer
und mit einem kräftigen Wisch über den Tisch beförderte
ich den gesamten Abfall, darunter blutverschmierte Tücher
und die Pinzette, in den Eimer. Ich knipste die Lampe aus
und stellte die Stühle an ihren Platz. Nach zwei Minuten
sah die Küche so aus, als wäre nicht das Geringste passiert.
Als wären das alles Geschehnisse eines seltsamen Traumes
gewesen. Und als ich dann noch die Sachen meines Bruders
zurück in den Schrank gelegt hatte, fühlte ich langsam wie-
der, wie die Normalität zu mir zurückkam.
Endlich zog ich den grünen Parka aus und streifte die
Schuhe ab. Für mehr fehlte mir buchstäblich die Kraft. Mit
schweren Lidern schleppte ich meinen müden Körper in
mein Zimmer. Eine einzige kraftlose Bewegung, und ich fiel
in mein Bett, noch immer mit der festen Absicht, nicht ein-
schlafen zu wollen.
In meinem Kopf drehte es sich weiterhin
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