Wolfsfieber
vor-
hin der Auslöser war oder doch etwas anderes.
Ich musste meine Geschwindigkeit weiter verringern,
denn es war kaum noch klare Sicht vorhanden. Der Schei-
benwischer quietschte in flottestem Tempo über die Wind-
schutzscheibe, um mir das Sehen wenigstens etwas zu
erleichtern. Als ich nur wenig das Bremspedal betätigte,
schlingerte der Wagen kaum, aber genug, um meine Kamera
auf den Autoboden fallen zu lassen. Instinktiv griff ich nach
der Kameratasche und ließ dabei die Straße aus den Augen.
Da kam die Katastrophe schon auf mich zu. Als ich mich wie-
der über das Lenkrad beugen wollte, sah ich es bereits aus
den Augenwinkeln. Etwas befand sich mitten auf der Straße.
Ich sah nur zwei reflektierende Augen, konnte jedoch nicht
sagen, auf was ich da zusteuerte. War es ein Reh? Nein, die
Größe stimmte nicht. Es musste eher ein Hund oder ein
Wolf sein. Es blieb mir keine Zeit, den Gedanken zu Ende
zu führen. Auszuweichen konnte ich vergessen. Es war nicht
einmal mehr genug Zeit, um zu bremsen. Ein dumpfer Auf-
prall stoppte den Wagen, der leicht nach rechts ausbrach.
Ich wurde hart gegen den Sicherheitsgurt gepresst. Mein
Kopf schleuderte nach vorne und wieder zurück in den Sitz.
Ich hielt die Luft an. Der Schock, sagte ich mir. Oh Gott, was
hatte ich angefahren? Hatte ich gar etwas getötet?
Beim Versuch den Gurt zu öffnen, bemerkte ich, dass
meine Hände eiskalt vor Schreck waren und kaum merklich
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zitterten. Ich hatte Angst auszusteigen und sehen zu müs-
sen, was ich angefahren, was ich verletzt hatte. Doch wenn
es wirklich verletzt wäre, müsste ich schnell handeln. Mit
einem festen Ruck stieß ich die Fahrertür auf. Nebel und
Regen verhinderten, dass ich sofort sah, was einen Meter
vor meinem Wagen lag. Ich musste blinzeln, um etwas durch
den Regen erkennen zu können. Mit zaghaften Schritten nä-
herte ich mich meinem Unfallopfer und mit jedem Zenti-
meter, den ich näher kam, lichtete sich der Nebel. Bis ich es
sehen konnte.
Auf der regennassen, glitzernden Fahrbahn lag kein Hund
oder irgendein anderes Tier. Dort lag ein Mann. Vollkommen
nackt. Mitten auf der Straße. Sein Rücken war mir zugewandt
und ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Sonst konnte ich
fast alles erkennen. Ich hatte einen Menschen angefahren.
Wie konnte das sein? Ich hatte doch ein Tier gesehen.
Wieso bewegte er sich nicht? Durch den Nebel und mit-
hilfe meiner Scheinwerfer erkannte ich, dass ich den Mann
verletzt hatte. Mein Blick schweifte von seinen Beinen,
vorbei an seinem Rücken zu seiner blutenden Hüfte. Auch
seine Hände und Arme schienen einige Schürfwunden ab-
bekommen zu haben. Was jetzt? Ihn bewegen, ihn umdre-
hen? Was zuerst? Wie war das noch gleich? Sollte ich den
Erste-Hilfe-Kasten holen oder ihn zuerst untersuchen oder
doch gleich den Notruf alarmieren? Ich bekam Panik. Was
für eine Ironie, wenn ich vorhin bei den Unfalltipps besser
aufgepasst hätte, wüsste ich nun genau, was zu tun wäre.
Mein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen, als
ich sah, dass er sich noch immer nicht bewegt hatte. Ich lief
schnell zum Wagen mit der offenen Fahrertür zurück und
fasste unter den Sitz, wo sich der Kasten mit dem Verbands-
zeug befand. Ich konnte das Plastik sofort spüren und griff
danach. Meine tropfnassen Haare waren mir ständig im Weg
und ich strich sie hinter meine Ohren.
Die kalte Nässe! Ich würde auch eine Decke für ihn brau-
chen. Ich zwängte mich zwischen den Vordersitzen durch
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und schnappte mir die alte, blaue Decke von der Rückbank.
Mit meinen Utensilien vollgepackt, rannte ich linkisch zu
dem verletzten Mann zurück. Auch beim zweiten Anblick
setzten mein Herz und meine Lungen für eine Sekunde aus.
Jetzt stand ich direkt über ihm und zusätzlich zu dem Re-
gen tropfte auch noch Wasser aus meinen langen Haaren
auf seine Schulter. Ich wollte die Decke auseinanderfalten
und über ihn legen, um ihn zu wärmen. Dabei hatte ich
den Erste-Hilfe-Kasten vergessen und er prallte mit einem
Scheppern auf dem Asphalt. Verbandszeug und Scheren lan-
deten auf der Straße. Ich kniete mich nieder, in eine Pfütze.
„Ach ja, stabile Seitenlage“, murmelte ich vor mich hin.
„Wie geht das noch gleich?“ Ich nahm die Brandschutzdecke
von der Straße und breitete sie unter seinem Rücken aus. Ich
musste ihn umdrehen. Nur so konnte ich sehen, wie schwer
ich ihn tatsächlich verletzt hatte und wo die Schrammen wa-
ren. Ich
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