Wolfsfieber
und ich starr-
te gebannt auf die Zimmerdecke mit dem uralten Riss. Das
Zimmer war vom Mondlicht durchflutet. Es musste Voll-
mond sein, die Nacht davor oder danach. So hell war es. Es
regnete jetzt nicht mehr. Ich starrte liegend aus dem Fenster
und suchte nach der hellen Mondscheibe. Schnell hatte ich
sie ausgemacht und starrte nun in einen riesigen Vollmond,
an dessen Seite nur ein kaum sichtbares Stück fehlte. Durch
diesen hypnotischen Anblick geriet ich ins Grübeln und mir
fiel sofort wieder ein, wie ich Istvan zum ersten Mal begeg-
net war.
Das war vor knapp zwei Wochen gewesen. Es schien ewig
her zu sein, dass ich die Mail der Redaktion gelesen hat-
te. Ein Bibliothekar sei in mein Dorf gezogen. Davon hatte
ich schon gehört, doch was ich nicht wusste, war, dass er
eine viersprachige Bibliothek eröffnen wollte, die einmalig
in unserer Gegend sein würde. Mein Redakteur schrieb, ich
müsse unbedingt zur Eröffnung, um einen Bericht über die-
25
se Bücherei zu schreiben und über den Bibliothekar, der sie
eingerichtet hatte. „Deutsche, ungarische, kroatische und
englische Literatur auf einem Fleck. Die Story müssen wir
bringen“, hatte Frank, mein Chef, geschrieben. Ich sah das
genau wie er und sagte natürlich zu. Wie hätte ich wissen
können, dass damit etwas ins Rollen kam, das mehr war, als
ich je imstande war mir vorzustellen.
So ging ich also mit Kameratasche und Reporterblock
bewaffnet in das alte Gemeindehaus, das man nun zur Bü-
cherei umfunktioniert hatte. Ich wusste so gut wie nichts
über diesen neuen Mann im Dorf. Der Bürgermeister hatte
nur beiläufig mal erwähnt, dass ein junger Mann mit unga-
rischem Namen in das alte Pfarrhaus gezogen wäre und pla-
ne, eine Bibliothek aufzumachen. Ich hatte keine großen Er-
wartungen, als ich zu Fuß zum Pfarrhaus, das früher mal als
Dorfschule gedient hatte, zur Eröffnung spazierte. Ich sollte
mich dort mit dem Bürgermeister treffen und dann mit ihm
und dem Bibliothekar zur Eröffnung ins alte Gemeindehaus
gehen. Der Auftrag lautete, unbedingt ein Foto von dem
mehrsprachigen Bibliothekar zu machen, dessen Name im
Rundschreiben zur Eröffnung nicht genannt worden war,
was ich schon ungewöhnlich fand.
Als ich dort ankam, bemerkte ich, dass bereits das halbe
Dorf auf den Beinen war und neugierig auf die Bücherei-
eröffnung wartete. Der Bürgermeister, ein kleiner, rundlicher
Mann namens Bernd Taucher, der mich schon kannte, als
ich gerade mal einen halben Meter hoch war, wartete bereits
auf mich und begrüßte mich mit einem Lächeln. Ich sah,
dass er sich in Schale geschmissen hatte. Anzug und Krawat-
te. Da kam ich mir mit meiner schwarzen Jeans, dem grauen
Pullover und dem Parka etwas underdressed vor. Aber ich
gehörte zur Presse. Das würde schon gehen. Er streckte mir
wie immer die Hand zur Begrüßung entgegen und informier-
te mich lächelnd: „Ich fürchte, der Herr Bibliothekar hat an-
dere Pläne. Ich soll alle informieren, dass er auf uns in der
Bibliothek wartet.“
26
„Schon gut. Zumindest können wir dann zusammen mit
dem Volksaufmarsch bei ihm einfallen“, scherzte ich und
deutete auf das halbe Dorf, das sich versammelt hatte, um
neugierig die neueste Attraktion der Gegend auszuspionie-
ren. Ich hätte wetten können, dass nicht einmal zwanzig Pro-
zent von ihnen wegen der Bücher kamen.
„Bereit, wenn du es bist“, ließ ich Bürgermeister Taucher
wissen und bedeutete ihm vorzugehen, was er auch tat. So
marschierten wir die schmale Straße hinunter und standen
bald vor dem alten Gemeindeamt. Ein Altbau mit drei gro-
ßen Räumen und einem kleinen Eingangsbereich, durch
den sich jetzt fünfzig Leute zwängten. Die alte, verblichene
Farbe an der Fassade hatte der neue Mieter belassen, doch
im Inneren war das Haus nicht wiederzuerkennen. Alles war
neu gestrichen worden in einem hellen Naturweiß und vie-
le dunkle Holzregale waren aufgestellt worden, auf denen
die Bücher eingeordnet waren. Vor jedem der drei Räume
war ein kleines Schild angebracht, das den Raum jeweils
als unga rischen, kroatischen oder deutschen Büchersaal
auswies. Im Eingangsbereich gab es ein kleines Buffet. Ich
begann mich im deutschsprachigen Saal umzusehen, da er
der größte war, und machte ein paar Schnappschüsse von
den Besuchern, die in den Büchern stöberten. Ich war be-
eindruckt von der Größe der Bibliothek. Das hatte ich nicht
erwartet. Vor ein paar
Weitere Kostenlose Bücher