Wolfsflüstern (German Edition)
dass der Superkrieger ein Zauberer war.«
»Das heißt nicht, dass ich generell nicht an ihn glaube.«
Ginas Blick glitt zurück zu dem extrem großen Strichmännchen-Soldaten. »Also vermutest du, dass das Attribut super mit seiner Größe zusammenhängt?«
»Möglich. Es könnte sich aber auch einfach auf seine Persönlichkeit, seine Essenz, sein Temperament beziehen. In vielen der Codices sind Hieroglyphen, die sich auf den König beziehen, ebenfalls größer als der Rest dargestellt. Die Azteken benutzten Größe nicht nur, um Großes zu symbolisieren, sondern auch als Synonym für die Bedeutsamkeit immaterieller Dinge. Für die Erhabenheit des Seins.«
Gina wusste nicht genau, was er damit meinte, aber sie verstand das Prinzip anhand der Zeichnung.
»Was ist damit?« Sie deutete auf eine Bilderkette unter dem gigantischen Krieger.
»Ich vermute, dass sie sich auf seine Charaktermerkmale beziehen.« Teo bewegte den Finger von Symbol zu Symbol, während er erklärte. »Der Wind, der außerdem für Stärke steht. Eine Eidechse für Durchhaltevermögen, ein Hase für Schnelligkeit, ein Hund für Loyalität; der Affe symbolisiert Agilität. In keinem anderen Kodex werden einem Krieger derart viele überragende Eigenschaften zugeordnet.«
Gina studierte die Hieroglyphen. In ihren Augen sah dieser Hund viel zu bösartig aus, um Loyalität zu symbolisieren. Vielleicht war er ja bösartig loyal gewesen.
»Möglicherweise hat das Super vor dem Krieger …«, sie zeigte auf das letzte Bild, einen Schädel, der höher aufragte als die anderen, »… nicht allein damit zu tun, dass er ein sehr großer Junge war, sondern auch damit, dass er es meisterlich verstand, Menschen zu töten.«
»Der Schädel steht tatsächlich für den Tod«, pflichtete Teo ihr bei. »Allerdings kann er auch Kraft und Vitalität ausdrücken.«
»Also war er entweder der König des Tötens«, folgerte Gina, »oder einfach nur übermenschlich groß.«
»Wahlweise beides.«
»Du sagtest, die Bilder können auch wörtlich das bedeuten, was sie repräsentieren.« Teo nickte. »Was, wenn die Armee auf ihrem Vormarsch einfach einen Hund, dann einen Hasen, eine Eidechse und einen Haufen Schädel gesehen hätte?«
»Wie erklärst du dir einen Affen so weit nördlich der Grenze?«
»Vielleicht war es ein Haustier. Gab es Affen im Reich der Azteken?«
Teo nickte, während er die Hieroglyphenreihe betrachtete. »Sollte das zutreffen, könnte dies nichts weiter sein als ein Reisetagebuch.«
Seine Augen hatten ein wenig von ihrem Glanz verloren.
»Wäre das schlimm?«, fragte Gina leise.
Er antwortete lange nicht, sondern starrte weiter auf die Seite, bis Gina seinen Ellbogen berührte. »Teo?«
Mit einem Ruck kehrte er in die Gegenwart zurück. »Hm … nun …« Er schob wieder seine Brille nach oben. »Es ist eine interessante Theorie. Womöglich sollte der große Krieger lediglich auf eine große Armee hinweisen. Nichts Welterschütterndes also.«
»Aber du sagtest, dass dies …«, Gina zeigte auf das Hummel-Messer, »… den Norden symbolisiert. Und das hier …«, sie tippte mit dem Finger auf das breite Gewässer, »… den Rio Grande.«
Teo senkte seufzend das Kinn zur Brust. »Es könnte alles bedeuten.« Er klappte das Buch zu. »Oder auch nichts.«
Gina fühlte sich, als hätte sie ein Kätzchen getreten.
»Selbst wenn dieser sogenannte Superkrieger nie existiert hat«, argumentierte sie, »verweist die Übersetzung noch immer darauf, dass die Azteken bis nördlich des Rio Grande vorgerückt sind. Ist das nicht wichtig?«
»Nicht, wenn es sich nicht beweisen lässt. Ohne dieses Grab werde ich niemals in der Lage sein, die Arbeit meiner Mutter oder meine eigene zu verteidigen.«
»Nun, was weiß ich schon?«, murmelte Gina. »Du und deine Mutter, ihr habt euch jahrzehntelang mit diesem Zeug befasst, während ich es heute zum ersten Mal sehe.«
Trotzdem hatte sie das seltsame Gefühl, es zu verstehen. Dass sie mit ein wenig Übung diese Schriften übersetzen könnte und was noch merkwürdiger war, sogar Lust dazu hatte. Offenbar war Teos Begeisterung ansteckend.
»Meine Mutter hat sich tatsächlich ihr ganzes Leben lang mit diesen Übersetzungen befasst.«
Auf einmal erkannte Gina, was sie getan hatte. Teo hatte Zweifel gehabt, an sich, an seiner Mission, und genau die hatte sie schüren wollen. Sie hatte gewollt, dass er aufgab und nach Hause fuhr. Stattdessen hatte sie das Gegenteil erreicht und seine Überzeugung weiter
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