Wolfsflüstern (German Edition)
das Symbol für Zähne, in der Sprache der Azteken tiantli genannt. Aber man benutzte es auch, um den Buchstaben T darzustellen. Und das hier …«, er zeigte auf etwas, das ebenfalls wie Zähne aussah, nur mit einem Dach darüber, »das steht für la , was auf einen L-Laut am Ende eines Wortes hinweist.«
»Was ist das für ein Ding?«
»Ich habe keinen blassen Schimmer. Irgendetwas, das für die Azteken wie la klang.«
»Wie konnten die Leute überhaupt etwas entziffern, bei all den vielen möglichen Bedeutungen?«
»Die Azteken konnten es, zumindest die, die des Lesens und Schreibens kundig waren. Auch wenn die Azteken zur damaligen Zeit die einzige Zivilisation darstellten, die Schulbildung für beide Geschlechter anbot, war ein Großteil der Bevölkerung dennoch Analphabeten. Die Menschen mussten nicht lesen und schreiben können, es sei denn, sie arbeiteten für die Regierung oder die Priester.«
»Woher wissen wir dann heute, was sie damals meinten?«
»Unter einigen der im Anschluss an die Eroberung rekonstruierten Codices finden sich spanische Übersetzungen.« Teo zog die Stirn kraus. »Gleichzeitig geben viele der Übersetzungen lediglich das wieder, was die Spanier den Texten entnehmen wollten.«
»Lass mich raten: Jeder bärtige Kerl war sofort Jesus, selbst in einer Geschichte über einen uralten Meeresgott.«
»Sag es mir, wenn dir das alles schon bekannt ist.«
»Ich musste mal ein Referat über die Kreuzzüge halten«, erklärte Gina. »Jeder alten Legende die eigene Interpretation überzustülpen, scheint das übliche Prozedere unter den christlichen Eroberern gewesen zu sein. Damit stellt sich weiter die Frage: Woher wissen wir, was die Azteken wirklich ausdrücken wollten?«
»Das wissen wir nicht. Um die Sache noch zu erschweren, haben die Azteken ihre Texte nicht linear aufgezeichnet, so wie wir es tun.« Er zog mit dem Finger von links nach rechts eine unsichtbare Linie über das Papier. »Sie malten ein Bild. Dinge, die weiter entfernt waren, oben, Dinge, die näher waren, unten. Aber alle stehen auf eigenartige mysteriöse Weise miteinander in Verbindung. Um sie zu übersetzen, muss man sie zerlegen und interpretieren.«
»Also praktisch ein Wo-ist-Walter? für die menschenopferbegeisterten Massen?«
»Ja. Wobei ich Walter nie irgendwo entdeckt habe.«
»Gott sei Dank«, murmelte Gina. Die Vorstellung, wie dieser bebrillte, Zuckerstangen leckende Blödmann mit seinem gestreiften Pulli hinter einer aztekischen Pyramide hervorlugte, war gleichzeitig amüsant und ein bisschen gruselig. »Ich verstehe noch immer nicht, wie du, angesichts all dieser Optionen, überhaupt irgendetwas entziffern kannst.«
»Das ist der Grund, warum meine Mutter eine Liste mit insgesamt sechs möglichen Orten zusammengestellt hatte, an denen der Superkrieger vergraben sein könnte.«
»Hatte sie auch eine Liste mit sechs Möglichkeiten, was der Superkrieger sonst noch sein könnte?«
Teos Augen, verdunkelt durch das dämmrige Licht und die Gläser der Brille, wurden schmal. »Was meinst du damit?«
»Wenn sein Begräbnisort einer von vielen sein könnte, könnte er selbst dann nicht auch einer von vielen sein?«
»Einer von vielen was?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Schau mal.« Teo rutschte näher und blätterte durch die Seiten, bis er das Gesuchte fand. »Dies sind die Hieroglyphen, die meine Mutter in Bezug auf die Superkrieger-Legende übersetzt hat.« Teo zeigte auf etwas, das eindeutig ein Soldat war. »Erkennst du, dass diese Zeichnung deutlich größer ist als die anderen?«
»Ja.« Tatsächlich war sie doppelt so groß wie die anderen. »Aber wie schon gesagt: Er war womöglich nur deshalb überlegen, weil er größer war als alle anderen. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass David Goliath nur deshalb besiegen konnte, weil der Riese gar nicht riesig, sondern einfach nur größer als der durchschnittliche Philister war.«
»David war trotzdem ein ziemlich guter Schütze. Und je kleiner der Kopf des Riesen, desto besser war dieser Schuss.«
»Der Punkt geht an dich«, sagte sie. Sie musterte ihn einen Augenblick. »Glaubst du die Geschichten aus der Bibel?«
»Ja«, bestätigte er, was Gina erstaunte. Von einem Gelehrten, einem Wissenschaftler hatte sie ein Nein erwartet. Teo war wirklich immer wieder für eine Überraschung gut.
»Würde ich diese Geschichten nicht glauben, wie könnte ich dann das hier glauben?« Er tippte wieder auf das Notizbuch.
»Ich dachte, du glaubst nicht,
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