Wolfsherz
geraten, als der Türgriff doch nicht da war, wo er ihn vermutete, und spürte endlich glattes Metall unter den Fingern. Die Türklinke.
Laß sie nicht abge
schlossen sein! flehte Stefan. Bitte, lieber Gott,
laß sie nicht abgeschlossen sein!
Sie war nicht abgeschlossen. Der Türgriff bewegte sich ohne den geringsten Widerstand nach unten, und eine Sekunde später fiel mattes farbloses Licht in den Raum.
Stefan stieß die Tür mit einem Ruck weiter auf, taumelte ins Freie und versuchte erst gar nicht, um sein Gleichgewicht zu kämpfen, als er stolperte. Er fiel auf ein Knie herab, ließ Rebecca ungeschickt zu Boden gleiten und sah sich hastig um.
Sie befanden sich im Freien. Die Tür führte auf einen schmalen Zwischenraum aus zwei der gewaltigen Krankenhausgebäude hinaus. In zwanzig Metern Entfernung begann eine weitläufige Rasenfläche, die im blassen Mondlicht fast schwarz wirkte, wie die Oberfläche einer Teergrube, in der sie hoffnungslos versinken mußten, wenn sie auch nur einen Fuß darauf setzten. Das Gefühl drohender Gefahr war immer noch da, aber es kam sonderbarerweise von vom, nicht aus dem Gebäude hinter ihnen, aus dem sie gerade mit knapper Not entkommen waren. Vielleicht tat er gut daran, sich doch nicht so hundertprozentig auf seine Instinkte zu verlassen.
Er versuchte aufzustehen und gleichzeitig Rebecca in die Höhe zu helfen, aber sie schüttelte den Kopf und machte eine schwache Abwehrbewegung. »Eva«, flüsterte sie. »Du mußt... sie holen.«
Stefan starrte sie an. Rebecca hatte recht: Er hatte versprochen, sie zu holen, und weit über dieses Versprechen hinaus konnte er einfach nicht ohne das Mädchen hier weggehen. Aber alles in ihm, jedes Molekül seines Körpers, sträubte sich gegen den bloßen Gedanken, noch einmal in diesen Raum zurückzukehren.
Trotzdem richtete er sich nach einer Sekunde ganz auf, drehte sich um und starrte die Tür hinter sich an. Sie stand halb auf, so daß ein wenig Licht in den dahinterliegenden Raum strömte; er konnte allerdings nur einen dreieckigen Bereich nackten Betonfußbodens erkennen. Die Schwärze dahinter war absolut; ein Versteck für alle Schrecken des Universums. Der Lärm und die Schreie waren verstummt, aber er spürte, daß dort drinnen noch etwas war. Etwas, das unendlich gefährlicher war als Barkows Männer und ihre Warfen.
Aber er hatte es Rebecca versprochen. Und er war es Eva schuldig. Das Ding dort drinnen war auch eine Gefahr für sie. Vielleicht sogar ganz besonders für sie.
Er zog die Tür weiter auf, ohne dadurch allerdings mehr zu sehen als einen weiteren Quadratmeter Zementfußboden, machte einen vorsichtigen Schritt und lauschte mit angehaltenem Atem. Der Kampflärm war verstummt, aber er hörte... irgend etwas. Er konnte nicht sagen, was, aber es war unheimlich. Furchteinflößend.
Trotzdem ging er weiter und blieb erst stehen, als er die Grenze des erleuchteten Bereiches erreichte. Er wagte es nicht, die Dunkelheit zu berühren, als sei sie etwas Körperliches, keine Schwärze, sondern lichtschluckende Säure, die ihn verbrennen würde, wenn er sie auch nur berührte. Dann sah er Eva.
Das Mädchen kauerte, nach vorne gebeugt und auf beide Fäuste gestützt, knapp jenseits des erhellten Bereiches und starrte gebannt in die Dunkelheit hinein. Stefan konnte ihr Gesicht nicht erkennen, aber ihre gesamte Haltung drückte Anspannung aus. Eine Reihe sonderbarer, unheimlicher Laute kam über ihre Lippen, ein seltsames, knurrendes Gurren, wie er es noch nie zuvor im Leben gehört hatte.
»Eva?«
Das Mädchen reagierte nicht. Er war sicher, daß es seine Stimme gar nicht gehört hatte. Stefan machte einen weiteren Schritt, wartete darauf, daß sich seine Augen an das schwache Licht gewöhnten und sah nach einer Sekunde ein, daß das nicht passieren würde.
»Eva«, sagte er. »Bitte! Komm her!«
Das Mädchen reagierte immer noch nicht, aber irgendwo in der Schwärze vor ihm rührte sich etwas. Ein Schatten. Vielleicht eine Gestalt, vielleicht auch nur eine weitere Ausgeburt seiner Phantasie. Wenn er auch nur noch zehn Sekunden hier stand, würde er nie mehr den Mut aufbringen, weiter zu gehen.
Stefan tat das einzige, wozu er überhaupt noch in der Lage war:
Er machte einen Satz, ergriff Eva unter den Armen und riß sie einfach in die Höhe.
Das Mädchen erwachte schlagartig aus seiner Starre, schrie auf und begann hysterisch um sich zu schlagen. Stefan ignorierte seine Gegenwehr, aber Eva zappelte so sehr in seinen
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