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Wolfsherz

Wolfsherz

Titel: Wolfsherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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sich vom Körper des toten Wolfs herunter. Alles drehte sich um ihn. Er fühlte sich unendlich schwach. Die Wunde an seinem Hals begann sich bereits zu schließen, aber das Leben pulsierte trotzdem noch immer in einem warmen Strom aus ihm heraus. Er mußte zu Rebecca. Wenn sie noch lebte - wenn sie
wieder
lebte -, brauchte sie seine Hilfe.
    Mit einer unvorstellbaren, verzweifelten Anstrengung stemmte er sich auf Hände und Knie hoch, blinzelte das Blut aus seinem sehenden rechten Auge und kroch auf Rebecca zu.
    White kam gute drei oder vier Minuten später nach oben gestürzt. Stefan hörte seine polternden Schritte schon, als er auf halber Höhe der Treppe war, aber er drehte sich nicht einmal zur Tür. Er wußte, wer kam. Whites Kennung eilte ihm voraus wie in roten Neonlettern geschrieben. Ebenso zweifelsfrei hätte er auch jeden anderen erkannt.
    White stolperte ins Gästezimmer, blieb einen Moment stehen und sah sich wild um. Stefan spürte sein jähes Entsetzen, als er Eva auf dem Bett liegen sah, und die noch viel tiefere, bohrende Angst, die darunter heranwuchs. White spielte nur den
    Starken. Er spielte diese Rolle so perfekt und schon so lange, daß er selbst daran glaubte, aber tief in sich hatte er ebenso große Angst wie Robert, oder auch Dom, und wahrscheinlich sogar mehr, denn er wußte ungleich besser, wie viele Grausamkeiten und Schrecken das Schicksal bereithalten konnte.
    All das und noch viel, viel mehr, das zu beschreiben sein noch immer menschliches Vokabular einfach nicht ausreichte, spürte er im gleichen Augenblick, in dem White hereinkam. Er war nicht mehr auf Augen und Ohren angewiesen. Menschliche Sinne waren so arm. Er hätte blind und taub sein können und hätte trotzdem hundertmal mehr von seiner Umgebung wahrgenommen als noch vor einem Tag. Er machte sich noch immer nicht die Mühe, sich zu White umzudrehen, aber er wußte trotzdem über jeden seiner Schritte Bescheid, jede Bewegung, ja, selbst über den Ausdruck auf seinem Gesicht.
    White stolperte ins Badezimmer, prallte ungeschickt gegen den Türrahmen und schrie:
»Stefan! Raus hier. Das Haus...
brennt.«
    Die ersten Worte hatte er geschrien; das letzte nur noch geflüstert, in einem heiseren, entsetzten Ton, als hätte ihm seine Stimme einfach den Dienst versagt. Stefan drehte sich nun doch zu ihm um.
    White war unter der Tür stehengeblieben. Er zitterte. Sein Blick irrte unstet zwischen Rebecca und dem toten Wolf hin und her, und für einen unendlichen Moment flackerte etwas darin, das Stefan an den beginnenden Wahnsinn in Roberts Augen erinnerte. Er wußte, daß White diesen Kampf gewinnen würde, aber der Gedanke beruhigte ihn auf eine sonderbare Art. Zeigte er doch, daß sich selbst White noch einen Rest von Menschlichkeit bewahrt hatte.
    »Großer Gott!« flüsterte White. »Was... ?«
    Er kam näher, wozu er über den toten Wolf hinwegsteigen mußte. Er tat dies mit einen völlig übertrieben großen Schritt, als hätte er Angst, sich zu besudeln, oder selbst Opfer des unheimlichen Fluches zu werden, wenn er den Kadaver berührte. Unsicher sah er immer wieder von dem toten Wolf zu Stefan und zurück.
    »Haben... Sie das getan?« murmelte er.
    Stefan nickte.
    »Mit bloßen Händen?« White klang zutiefst erschüttert. Dann ging er neben Stefan in die Hocke und sah auf Rebecca herab, und der Ausdruck auf seinen Zügen wandelte sich in Betroffenheit. »Es tut mir leid«, flüsterte er. »Das wollte ich nicht, bitte glauben Sie mir.«
    Er atmete hörbar ein, sah Stefan an und wartete offensichtlich darauf, eine Antwort zu bekommen. Aber Stefan schwieg. Nach einigen Sekunden löste er den Blick von Whites Gesicht und sah auf Rebecca herab. Er hatte ihre Augen geschlossen und sie halb auf die Seite gedreht. Er wollte nicht, daß White ihre Kehle sah.
    »Wahrscheinlich ist es zuviel verlangt, wenn ich jetzt erwarte, daß Sie mir die Absolution erteilen«, sagte White nach einer Weile. »Ich kann verstehen, wenn Sie mich jetzt hassen.«
    »Das tue ich nicht«, sagte Stefan. Er war weit jenseits davon, so etwas wie Haß überhaupt noch empfinden zu können. Haß war ein Gefühl, das in die Welt der Menschen gehörte, und von diesen entfernte er sich in jedem Moment weiter.
    »Vielleicht sollten Sie es«, sagte White leise. »Meistens hilft es, wenn es jemanden gibt, dem man die Schuld geben kann. Es macht es nicht besser, aber es hilft, mit dem Schmerz fertigzuwerden.« Er seufzte. »Wir müssen hier raus, Stefan. Das Haus

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