Wolfsherz
den Mund ein, daß seine Unterlippe aufplatzte. Er hielt trotzdem eisern fest, und Rebecca nutzte die Gelegenheit, das strampelnde Energiebündel so zu packen, daß sie seine Arme und Beine blockieren konnte. Das Kind versuchte nach ihrem Gesicht zu beißen, und Rebecca drehte hastig den Kopf weg.
»Was ist passiert?« fragte Stefan zum wiederholten Male. »Becci!«
»Ich bin okay!« antwortete Rebecca. »Hilf mir. Sie ist völlig hysterisch!« »Aber das Blut -«
»- stammt von dem Wolf«, unterbrach ihn Rebecca. »Ich bin nicht verletzt.« Sie sprach abgehackt und stoßweise, weil die heftig strampelnden Füße des Kindes immer wieder in ihren Magen trafen. Außerdem mußte sie den Kopf in einer umständlichen Haltung nach hinten biegen, um den schnappenden Zähnen des Mädchens zu entgehen.
»Verdammt noch mal, bringen Sie dieses Kind zum Schweigen!« brüllte Wissler. Er arbeitete sich mühsam unter dem toten Wolf hervor, raffte seine Waffe vom Boden auf und kam zu ihnen gelaufen.
Rebecca versuchte es, aber das Mädchen kämpfte mit einem Ungestüm und einer Wut, die Stefan schaudern ließ. Es gebärdete sich wie ein Tier, nicht wie ein Mensch. Als er nach ihm zu greifen versuchte, schnappten seine Zähne mit solcher Kraft zu, daß es ihm vermutlich einfach die Finger abgebissen hätte, hätte es ihn erwischt.
»Hör auf!« flehte Rebecca. »Bitte, Kleines, hör doch auf!«
Ihre Worte schienen es eher noch schlimmer zu machen. Das Mädchen stieß ein langgezogenes, schrilles Heulen aus und schlug plötzlich nach ihrem Gesicht. Seine Fingernägel, die so lang und schmutzig wie die Krallen einer Wildkatze waren, hinterließen vier lange, blutige Kratzer auf Rebeccas Wange. Rebecca keuchte vor Schmerz, ließ das Kind aber trotzdem nicht los, und Wissler beugte sich blitzschnell vor und versetzte dem Kind eine schallende Ohrfeige. Die Schreie des Mädchens verstummten abrupt. Es hörte auf, um sich zu schlagen, sondern preßte sich plötzlich mit der gleichen Kraft, mit der es sich gerade noch gegen Rebecca gewehrt hatte, an ihre Brust und begann zu weinen.
Rebecca drückte das Kind schützend an sich, rutschte hastig ein Stück von Wissler fort und funkelte ihn an. »Sind Sie verrückt geworden?!« keuchte sie. »Wagen Sie es nicht, sie noch einmal anzurühren, Sie Ungeheuer!«
»Vielleicht sollte ich lieber Sie schlagen!« antwortete Wissler wütend. Er schrie fast. »Wollten Sie uns alle umbringen? Was soll das? Ich hatte Ihnen befohlen, am Waldrand
zu
bleiben!« Er schüttelte zornig den Kopf. »Was haben Sie sich nur dabei gedacht?«
Rebeccas Augen wurden groß. »Gedacht?« wiederholte sie ungläubig. »Ich... ich habe ein Kind schreien hören!«
Wissler seufzte. »Ja, ich weiß«, sagte er. »Man kann es kaum übersehen. Und was haben Sie jetzt damit vor?«
Rebecca verstand sichtlich im ersten Moment nicht, was er überhaupt meinte. Stefan auch nicht.
»Sie wollen es mitnehmen«, fuhr Wissler fort, als Rebecca nicht antwortete. »Das geht nicht.«
»Wie bitte?« fragte Stefan. Wissler wandte kurz den Blick in seine Richtung und sah dann wieder Rebecca an. »Bitte, hören Sie mir zu«, begann er. »Ich kann mir vorstellen, was Sie jetzt empfinden, aber -«
»Das bezweifle ich«, sagte Rebecca schneidend. »Sie sind verrückt, wenn Sie auch nur eine Sekunde lang glauben, daß ich dieses Baby seinem Schicksal überlasse.«
Wissler wollte antworten, aber in diesem Moment trug der Wind ein langgezogenes, klagendes Heulen mit sich. Einen Augenblick später antwortete ein gleichartiger Laut aus der anderen Richtung. Keiner von ihnen mußte fragen, was diese Geräusche bedeuteten.
»Was ist mit dem Hubschrauber?« fragte Stefan hastig, um Wissler abzulenken.
»Er ist auf dem Weg«, antwortete Wissler. »Noch fünf Minuten. Falls uns noch soviel Zeit bleibt... Die Russen haben die Schüsse mit Sicherheit gehört. Verdammt! Das hätte nicht passieren dürfen!«
»Genau wie so manches andere«, fügte Rebecca grimmig hinzu. Sie stand auf und funkelte Wissler herausfordernd an. »Wenn wir nur noch fünf Minuten haben, dann sollten wir uns besser beeilen.«
Wissler starrte sie an. Er sagte nichts, und auch Rebecca erwiderte seinen Blick wortlos, und doch spürte Stefan, daß die Auseinandersetzung in diesem Moment entschieden wurde, einfach durch die Blicke, mit denen sich die nur scheinbar so ungleichen Gegner maßen. Wissler mochte bisher die Rolle des Leitwolfs übernommen und auch perfekt
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