Wolfsherz
ausgefüllt haben, auch für Becci - er war stärker, zielbewußter, vielleicht klüger und mit Sicherheit rücksichtsloser, aber nichts davon zählte jetzt noch wirklich. Das hilflos wimmernde Kind, das Becci an ihre Brust drückte, hatte alles verändert, denn es weckte Urinstinkte in ihr, gegen die alle antrainierten Reflexe Wisslers, seine Rücksichtslosigkeit und seine mühsam gepflegte Autorität nichts mehr zählten. Bei Becci waren diese Instinkte vielleicht noch stärker ausgeprägt als bei den meisten anderen Frauen. Wissler konnte das nicht wissen, aber Stefan begriff mit entsetzlicher Klarheit, daß nichts, was er auch tun oder sagen konnte, sie dazu bewegen würde, dieses Kind hier zurückzulassen. Wissler würde sie erschießen müssen, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen.
Und zumindest
das
schien dem Amerikaner ebenso klar zu sein wie ihm, denn nach einigen weiteren Sekunden wandte er sich mit einem Ruck um und ging.
Über dem wie mit einem Lineal gezogenen Berggrat im Osten war ein schmaler Streifen aus verwaschenem Grau erschienen. Es begann zu dämmern. In ein paar Minuten würde dieser graue Streifen anfangen, sich über den ganzen Himmel auszubreiten, und kurz darauf würde es vollends hell werden. Von dem Helikopter war noch keine Spur zu sehen.
»Die fünf Minuten sind längst vorbei«, sagte Stefan. »Wo, zum Teufel, bleibt er?«
»Es ist noch nicht hell genug«, antwortete Wissler. Seine Stimme klang ungeduldig und wütend zugleich.
»Wie hell muß es denn werden?« fragte Stefan. »Hell genug für die Russen, um eine ihrer Raketen abzuschießen?«
Wissler starrte ihn feindselig an. »Die Russen sind nicht unser Problem«, sagte er. Er machte keinerlei Anstalten, diese Bemerkung irgendwie zu erklären, aber Stefan kam es so vor, als würde das Heulen der Wölfe für einen kurzen Moment lauter. Der unheimliche, wimmernde Chor hatte nicht für eine Sekunde innegehalten, seit sie die kleine Lichtung im Wald verlassen hatten. Im Gegenteil. Stefan war beinahe sicher, daß er zwar nicht lauter geworden war, sich sehr wohl aber noch etliche Stimmen dazugesellt hatten. Er versuchte vergeblich, die Vorstellung abzuschütteln, daß sich die Wolfsstimmen miteinander
unterhielten.
»Sehen Sie die Bäume dort drüben?« Wisslers ausgestreckte Hand deutete über den Fluß. Stefan konnte dort nicht mehr als Schatten erkennen, aber er nickte trotzdem.
»Ihre Äste ragen fast bis zur Flußmitte hinaus«, fuhr Wissler fort. »Und die auf dieser Seite auch. Ich schätze, daß die Lücke an manchen Stellen nicht breiter als zwölf oder fünfzehn Meter ist. Die Spannweite der Rotorblätter beträgt neun Meter. Wenn der Pilot auch nur einen winzigen Fehler macht oder die Maschine von einer plötzlichen Windböe getroffen wird, ist es aus. Er
kann
bei diesem Licht nicht landen.«
Wahrscheinlich hatte er damit recht, dachte Stefan. Aber das machte es nicht besser. Fünf Minuten waren eine Ewigkeit. Daß sie die letzten fünf Minuten überstanden hatten, kam ihm im nachhinein schon wie ein Wunder vor. Ob seine Kraft ausreichte, noch einmal so lange durchzuhalten, wußte er nicht.
Er sah noch einmal zum Fluß hinüber, dann drehte er sich um und ging zu Rebecca, die ein paar Schritte zurückgeblieben war. Das Mädchen hatte aufgehört zu weinen und lag still in ihren Armen, so daß Stefan im ersten Augenblick dachte, es wäre eingeschlafen. Aber als er näher kam, sah er, daß seine Augen offenstanden und ihr Blick neugierig und völlig ohne Scheu auf Rebeccas Gesicht gerichtet war. Es schien begriffen zu haben, daß ihm von Rebecca keine Gefahr drohte.
»Ist sie verletzt?« fragte er.
»Ich glaube nicht.« Rebecca sah nur flüchtig zu ihm auf und senkte den Blick dann sofort wieder auf das Kind, das sie tatsächlich wie ein Baby in der Armbeuge trug, obwohl es dafür eigentlich schon viel zu groß und mit Sicherheit entschieden zu schwer war. Ein sehr warmes, zärtliches Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
Stefan war ganz und gar nicht zum Lächeln zumute, als er ihren Gesichtsausdruck sah. Ganz im Gegenteil. Selbst wenn sie lebend hier herauskämen, würden die Probleme dann erst richtig beginnen.
»Wahrscheinlich hat sie einen Schock«, sagte er.
»Ja, wahrscheinlich«, sagte Rebecca. »Das arme Ding. Sie muß entsetzliche Angst gelitten haben. Ob ihre Eltern wohl noch leben?«
Offenbar vermutete sie, daß die Wölfe die Eltern des Mädchens getötet und das Kind - warum auch immer -
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