Wolfspfade 6
Mutter nahm beim zweiten Läuten ab, so als ob es für sie ganz alltäglich wäre, in aller Herrgottsfrühe angerufen zu werden. Aber natürlich konnte seit Katies Verschwinden jeder Anruf „der Anruf“ sein.
Meine Berufswahl hatte meine der oberen Mittelschicht angehörenden Eltern nicht gerade begeistert. Mein Vater war Buchhalter; meine Mutter hatte früher als Krankenschwester gearbeitet. Nach Katies Geburt war sie zu Hause geblieben und hatte ihren Job für immer an den Nagel gehängt. Man hätte meinen können, meine Familie wäre in den Fünfzigern stecken geblieben, nur dass in jener goldenen Dekade nicht oft Töchter spurlos verschwanden oder Frauen Privatdetektive wurden.
„Guten Morgen …“, setzte ich an.
„Wo steckst du?“
Manchmal hätte ich schwören können, dass die Frau hellseherisch veranlagt war. Andererseits sah sie natürlich meine Rufnummer auf dem Display.
„In New Orleans“, erklärte ich, bevor ich ihr so schnell wie möglich so wenig wie möglich erzählte.
„Anne, du weißt noch nicht mal, ob das Mädchen auf dem Foto wirklich Katie ist.“
„Doch, das weiß ich.“
„Warum sollte dir jemand ein Foto schicken, ohne seine Identität preiszugeben oder dir zu sagen, warum er es geknipst hat?“, hörte ich die Stimme meines Vaters. Wie üblich hatte er im selben Moment, als meine Mutter rangegangen war, am Nebenanschluss abgenommen.
„Ich bin überzeugt, dass derjenige Katies Gesicht auf einer Internetseite oder einem Plakat gesehen und überrascht festgestellt hat, dass er es von einem seiner Urlaubsfoto kennt.“
Mein Vater ließ ein Grunzen hören – er glaubte daran so wenig wie ich.
„Wir wissen nicht, wann das Foto geschossen wurde, es könnte ebenso gut vor ihrem Verschwinden entstanden sein“, wandte meine Mutter ein.
„Aber Katie war nie in New Orleans.“
„Bist du da ganz sicher?“
„Du etwa nicht?“, fuhr ich auf. „Sie war gerade erst mit der Highschool fertig, als sie verschwand. Wurde sie davor etwa schon mal vermisst, ohne dass ich davon weiß?“
„Nein, nur dieses eine Mal“, flüsterte meine Mutter.
Ich hätte mich ohrfeigen können, weil ich ihr Kummer bereitete, gleichzeitig musste ich mich beherrschen, um nicht ein Freudentänzchen aufzuführen.
„Begreifst du denn nicht?“, fragte ich aufgeregt. „Das Foto muss nach ihrem Verschwinden gemacht worden sein, was wiederum bedeutet, dass sie nach der Nacht, in der sie zuletzt gesehen wurde, noch am Leben war.“
Bis zu diesem Moment war mir nicht bewusst gewesen, dass ich insgeheim befürchtete, Katie könnte am Grund des Delaware River liegen.
„Annie.“
Meine Mutter war die Einzige, die mich so nannte. Ich war kein Annie-Typ. Weder hatte ich lockiges rotes Haar noch konnte ich singen, und ich vertrat auch nicht die Meinung, dass morgen immer die Sonne scheinen würde. Morgen, das war in der Regel ein Tag voller Wolken.
„Du musst diese Sache irgendwann loslassen“, fuhr sie fort.
„Welche Sache?“
„Deine Obsession, Katie zu finden. Sie ist fort, Schatz. Deine Schwester wird niemals zurückkommen.“
Ich ließ mich auf eine Bank sinken und starrte auf den Mississippi, der so friedvoll dahinströmte, als wollte er das plötzliche kaffeesaure Gurgeln in meinem Magen verhöhnen.
Meine Eltern hatten aufgegeben. Sie hielten Katie für tot.
„Du hast dich seit dem Verlust sehr verändert“, murmelte meine Mutter.
„Trifft das nicht auf uns alle zu?“
Zuvor hatten meine Eltern jung gewirkt. Sie hatten beim Essen gelacht, an warmen Sommerabenden im Sternenlicht getanzt, und in ihren Haaren war nicht eine Spur von Grau gewesen.
Danach waren sie praktisch über Nacht gealtert. Zunächst gingen sie nicht mehr aus, für den Fall, dass Katie anrief, später dann für den Fall, dass man sie gefunden haben könnte. Aber in letzter Zeit …
In letzter Zeit hatten sie wieder angefangen auszugehen. Vergangenen Monat waren sie sogar nach Florida in Urlaub geflogen. Warum hatte ich nicht realisiert, was das bedeutete?
„Ihr müsst mir per FedEx ein paar Klamotten schicken“, sagte ich und ignorierte einfach, was ich nicht an mich heranlassen wollte. „Sommersachen, okay?“
„Wie lange wirst du bleiben?“, erkundigte sich mein Vater.
„Ich gebe euch Bescheid.“
„Du solltest nach Hause kommen, Anne.“
„Ich kann nicht.“
Stille drang aus der Leitung. Schließlich bat er mich leise: „Pass auf dich auf.“
Ich wusste nicht, ob ich ihm auch nur das
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