Wolfspfade 6
darüber, keinen zu haben. Ich war noch nie ein guter Mannschaftsspieler gewesen – außer bei Katie, und manchmal selbst da nicht.
„Man hat mich angewiesen, die Morde nicht miteinander in Verbindung zu bringen. Aber …“ Er zuckte mit den Schultern.
„Ihr Bauchgefühl sagt Ihnen etwas anderes.“
„Irgendetwas sagt es mir jedenfalls“, murmelte er. „Ich kann einfach nicht glauben, dass dieser plötzliche Anstieg der Mordrate auf ein Dutzend verschiedene Täter zurückzuführen sein soll oder dass ein anderes Dutzend einfach so verschwindet, ohne eine Spur zu hinterlassen. Das wäre einfach zu viel Zufall.“
Menschen, die spurlos verschwanden – das war genau mein Gebiet. Ich musste gestehen, dass ich mehr als fasziniert war.
„Trotz allem, was wir über das Verhalten von Serienmördern wissen“, sagte ich, „halten Sie es für wahrscheinlich, dass ein einziger Täter sie alle getötet hat?“
„Es wäre zumindest ordentlicher.“
Mein Blick schweifte über seinen blauen Anzug, das blütenweiße Hemd, die sorgfältig gebundene Krawatte, und ich erkannte, wie wichtig Ordnung für ihn war.
„Wie kommt es, das man mich zu Ihnen geführt hat?“, fragte ich.
„Ich habe eine Abmachung mit dem Dezernat für Vermisstenfälle. Wir tauschen Informationen aus, und falls jemand reinkommt und von ihnen keiner da ist, ich aber schon, nehme ich das Protokoll auf und gebe ihnen anschließend eine Kopie.“
„Und vice versa?“
„Ganz genau.“ Sullivan zog eine Schreibtischschublade auf und holte einen riesigen Aktenordner heraus. „Ich habe ein bisschen auf eigene Faust ermittelt, aber inzwischen fehlt mir die nötige Zeit.“
Ich hatte keine Ahnung, warum er mir das alles erzählte, allerdings sagte man mir nach, dass es leicht sei, sich mir anzuvertrauen. Was mir sehr entgegenkam, denn immerhin bestand der wichtigste Teil meiner Arbeit darin, den Leuten Informationen, ein Geständnis, einen Namen zu entlocken.
„Wieso beißen Sie sich da so fest, wenn es doch keine Verbindung zwischen den Opfern gibt?“, platzte ich heraus.
Er hob den Kopf und sah mich an. „Weil ich auf eine gestoßen bin.“
Ich beugte mich nach vorn. „Was?“
„Die meisten der Opfer wurden davor schon einmal vermisst.“
Es trat Stille ein, die nur von dem fernen Läuten eines Telefons durchbrochen wurde.
„Nur dass ich Sie richtig verstehe: All diese Toten und Vermissten, deren Zahl so abrupt angestiegen ist, wurden bereits zu einem früheren Zeitpunkt vermisst?“
„Nicht alle, was jedoch daran liegen könnte, dass niemand ihr Verschwinden bemerkt oder gemeldet hat.“
„Trotzdem muss das nicht zwangsläufig heißen, dass sie einem Serienkiller zum Opfer fielen.“
„Nein. Aber es ist eine Verbindung.“
„Haben Sie Ihrem Boss davon erzählt? Dem FBI?“
„Ich brauche mehr Informationen, bevor ich mich das nächste Mal zum Affen mache.“ Er musterte mich mehrere Sekunden. „Hätten Sie Lust, einen Blick in die Akte zu werfen?“
„Was, ich?“
„Jeder der Toten oder Vermissten wurde schon früher einmal vermisst“, wiederholte er so langsam, als spräche er mit einer geistig Minderbemittelten.
„Das habe ich verstanden.“
„Ihre Schwester wird vermisst.“
„Sie wird schon seit langer Zeit vermisst.“
„Allem Anschein nach wurde sie zuletzt in dieser Stadt gesehen. Genau wie eine Menge anderer Leute.“
Ich runzelte die Stirn. Mir gefiel nicht, was er nicht sagte.
Sullivan schob mir den Ordner hin, schlug ihn auf und zeigte auf eine Liste von Namen. „Das hier sind die Vermissten und die Toten; daneben steht jeweils der Ort, an dem sie zuletzt gesehen wurden.“
Ich überflog die Seite, dann zuckte ich zusammen, als ob mich jemand in den Hintern gekniffen hätte.
„Wie Sie sehen können“, fuhr Sullivan fort, „landeten die meisten von ihnen auf dieser Liste, nachdem sie im Rising Moon gewesen waren.“
4
„Ich verstehe nicht.“
„So schwer ist das nicht, Miss Lockheart.“
„Anne“, korrigierte ich geistesabwesend, während ich die Liste anstarrte, mir auf die Lippen biss und dann zu dem Foto schaute, das Katie vor dem Rising Moon zeigte.
„Anne“, wiederholte Sullivan. „Menschen sind verschwunden, ein paar von ihnen wurden anschließend tot aufgefunden, und der letzte Ort, an dem man sie lebend sah, war dieser Jazzclub in der Frenchmen Street.“
„Zufall.“
„Zufall ist nichts weiter als ein Synonym für Indiz. Besonders, nachdem Sie jetzt hier mit
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