Wolfspfade 6
versprechen konnte.
„Wohin soll ich die Kleidung schicken?“ Meine Mutter kramte Papier und Bleistift heraus. Sie mochte manchmal an mir verzweifeln, trotzdem war sie immer für mich da. Genau wie Katie immer für mich da gewesen war.
Bis sie es dann nicht mehr konnte.
5
Die einzige Adresse, die ich ihr geben konnte, war die des Rising Moon , die ich auf die Rückseite des Fotos gekritzelt hatte. Ich nannte sie meiner Mutter, bevor wir uns mit „Ich liebe dich“ und „Bis bald“ verabschiedeten.
Das Sonnenlicht lag wie ein goldener Teppich über der Straße vor mir. Bald schon würde sengende Hitze von dem Asphalt aufsteigen. Zweifellos war es auf der Frenchmen Street bis vor wenigen Stunden heiß hergegangen, und noch immer flanierten massenweise Menschen über die Gehsteige.
Die großen Fenster an der Front des Rising Moon blickten dunkel und abweisend. Wo letzte Nacht Ausgelassenheit und Lebendigkeit geherrscht hatten, waren Düsterkeit und Stille eingekehrt; selbst das unbeleuchtete Neonschild war nur mehr totes Glas. Las Vegas musste bei Tageslicht einer Geisterstadt gleichen.
Da ich annahm, dass der Club mindestens bis zum Nachmittag geschlossen sein würde, beschloss ich, ins French Quarter zurückzukehren. Ich wollte mir die Schaufenster ansehen und feststellen, ob ich nicht ein paar luftigere Klamotten erstehen konnte, um die Zeit zu überbrücken, bis mein Päckchen eintraf.
Doch dann veranlasste mich eine unscharfe Bewegung hinter der Glasscheibe, nach dem Türknauf zu greifen. Er drehte sich in meiner Hand. Der Geruch von schalem Bier und kaltem Rauch schlug mir entgegen. Ich zog die Nase kraus und trat ein.
„Wir haben erst ab fünf geöffnet.“
Derselbe muskulöse Barkeeper stellte gerade Stühle auf die Tische. Der Boden war mit Zigarettenkippen übersät und klebrig von zu vielen verschütteten Cocktails.
„Ich bin nicht wegen eines Drinks hier.“ Ich schnappte mir einen Besen und fing an, den losen Unrat zu einem Haufen zusammenzufegen. „Sondern wegen eines Jobs.“
Er hielt weder inne noch sah er in meine Richtung, stattdessen hievte er weiter in zackigem Tempo Stühle nach oben. „Ich dachte, Sie suchen nach Ihrer Schwester.“
„Ich brauche eine Unterkunft sowie Verpflegung, während ich das tue.“
Er ließ von den Stühlen ab; ich ließ von dem Müll ab. „Haben Sie schon mal in einer Bar gearbeitet?“
„Nein.“
„Sie sind eingestellt.“
Ich blinzelte verdutzt. „Wie bitte?“
„Der Mardi Gras steht vor der Tür. Wir brauchen Hilfe. Sie haben Köpfchen; sie werden schnell lernen.“
Ich vermutete, dass das als Kompliment gemeint sein könnte, war mir aber nicht sicher. „Ich heiße Anne“, stellte ich mich vor. „Anne Lockheart.“
„Und ich bin King.“
„Von was?“
„Das ist mein Name.“
Ich hätte gern gefragt, ob King sein Vorname war oder sein Nachname, wollte aber nicht unhöflich erscheinen.
Er lächelte angesichts meiner offenkundigen Verwirrung. „Meine Mutter war Elvis-Fan.“
„Ach so, der King.“
„Ganz genau.“ Er legte den Kopf schräg. „Also, willst du den Job?“
„Muss ich nicht erst mit dem Besitzer sprechen?“ Nicht dass ich das gewollt hätte.
„Er hat nicht viel mit dem Alltagsgeschäft zu tun. Dafür bin ich zuständig.“
„Wann fange ich an?“
King zeigte auf den Besen. „Das hast du schon.“
In Wirklichkeit musste ich erst gegen acht an diesem Abend antreten, als der Laden zu brummen begann. King kümmerte sich um die Bar. Ich sollte die Getränkebestellungen an den Tischen entgegennehmen. Wie schwer konnte das schon sein?
„Mindestlohn plus Trinkgelder“, informierte er mich, als er mich die Treppe hinaufführte. „Und dann noch das hier.“
Er stieß eine Tür auf, hinter der ein einzelnes Zimmer zum Vorschein kam. Ein Bett, ein Stuhl, ein Nachttisch; der Kleiderschrank besaß keine Tür. Obwohl die Farbkombination – Gold und Olivgrün – den Siebzigerjahren entsprungen zu sein schien, war das Zimmer zumindest sauber.
„Das Bad ist hier drüben.“ King überquerte den Hartholzboden, den nicht der kleinste Teppichflicken zierte, und knipste einen Lichtschalter an. Strahlend weiße Fliesen und eine klauenfüßige Badewanne, davor ein offensichtlich nagelneuer Duschvorhang.
„Mit Ausnahme von dir ist der erste Stock momentan unbewohnt. Falls wir Glück haben, trudelt noch mehr Hilfe ein. Wenn nicht, werde ich für den Fetten Dienstag Aushilfskräfte von außerhalb
Weitere Kostenlose Bücher