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Schweizer Ware

Schweizer Ware

Titel: Schweizer Ware Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Aeschbacher
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PROLOG
    Die alte Amadio-Meier saß stillvergnügt an ihrem filigranen Salontisch aus Kirschbaumholz. Sie schmunzelte. Vor ihr lag das korrekt ausgefüllte Sudoku Rätsel der Gratiszeitung Baslerstab . Das hatte sie soeben gelöst.
    »Bravo, Helen«, lobte sich die 85-Jährige selbst. »Hast du es wieder einmal geschafft!«
    Eine innere Stimme antwortete: »Du, das war dann gar nicht so einfach heute.«
    Prompt lächelte die vitale Rentnerin noch erfreuter und lobte sich gleich noch mehr. »Merci«, bedankte sie sich höflich bei sich selbst und strampelte mit den Füßchen.
    Helen Amadio-Meier war kleingewachsen und ihre Zehen berührten nicht einmal den Boden, wie sie so dasaß auf einem gutbürgerlichen Stuhl am gutbürgerlichen Tisch in ihrer gutbürgerlichen Wohnung, dort an der Rotbergerstraße, im ruhigen und wohligen Bachlettenquartier in Basel. Um ihre steifen Gelenke weiter zu lockern, schlenkerte sie mit den Beinen. Sie hatte beinahe eine Stunde lang ohne Unterbrechung am Tischchen gesessen, nachdem sie den Baslerstab wie jeden Dienstag am Einkaufsladen ein paar Straßen weiter aus der Verteilbox gefischt und nach Hause getragen hatte. Unterwegs hatte sie Frau Bitterlin getroffen und sich ein wenig mit ihr unterhalten. Man kannte sich und redete über dies und das und jenes und noch vieles mehr.
    Zurück daheim hatte sie sich rasch einen Salbeitee gebrüht. Salbei lindert Zahnschmerzen. Auch für Schürfungen im Zahnfleisch, wie sie bei künstlichen Gebissen gerne vorkommen, tut diese Medizin gut. Den Tee hatte die alte Frau in exquisitem Teegeschirr von Rosenthal zusammen mit ein paar Süßigkeiten an den Tisch getragen. Eigentlich waren ihr solche Leckereien verboten. Aber auf diesen Genuss hätte sie niemals verzichtet. Auch heute hatte sie sich zur Sicherheit bereits einen kleinen Nachschlag an Teegebäck dazugelegt, noch bevor sie mit dem Sudoku begonnen hatte.
    Jetzt war sie mit dem Rätsel fertig und wollte – ja musste – hin zum Telefontischchen, um dort ein Telefongespräch zu führen. Vor einer Stunde hatte sie bei der Kantonspolizei Basel angerufen. Sie hatte Kriminalkommissar Baumer verlangt – dringend! Mehrmals hatte sie ihn schon zu erreichen versucht an diesem Tag. Doch immer hatte es geheißen, der Kommissar sei noch nicht zurück in seinem Büro. Weil sie die Nummer seines Mobiltelefons nicht bekam, hatte die Rentnerin warten müssen. Nun würde sie erneut anrufen. Es musste sein. Kommissar Baumer musste unbedingt informiert werden, denn schließlich hatte sie einen schrecklichen Verdacht. Den wollte sie Herrn Baumer – und nur ihm – anvertrauen. Er würde wissen, was zu tun wäre. Bevor sie sich aber auf ihre Füße stellen und sicheren Schrittes gehen konnte, musste sie ihre Muskeln aufwärmen. Das linke Bein machte Mühe, immer beim Anlaufen. Wenn es aber einmal in Bewegung war, dann ging es ordentlich.
    Helen Amadio-Meier störte sich nur wenig an den kleinen und manchmal größeren Gebrechen, die treue Begleiter ihres Daseins geworden waren. Sie lebte noch, und sie lebte gut. Ihre Tage waren denn auch ausgefüllt mit hundert Sachen, die es zu erledigen gab. Einkäufe etwa, die in ihrem Alter gut geplant und mit Umsicht durchgeführt werden mussten. Oder Besuche bei Freundinnen, die meist im Spital oder im Altersheim auf die liebe Helen warteten. Die alte Dame war selbstständig und wollte das so lange als möglich bleiben. »Wer rastet, der rostet«, sagte sie jedem, der es hören mochte und ließ dabei ihre Arme um den Kopf tanzen, um zu beweisen, wie rüstig sie noch immer war.
    Als die Beine bereit waren, machte sie sich umständlich ans Aufstehen. Im selben Moment kratzte es am Türschloss. Die alte Dame erschrak, und ihr Oberkörper fuhr kerzengerade im Stuhl auf. Sie hatte niemanden die Treppe im Hausflur hochkommen hören.
    Jetzt knackte es.
    Helen Amadio spitzte die Ohren, riss die Augen auf.
    An der Wohnungstür splitterte Holz.
    Rasch stemmte sie sich auf und bewegte sich mit vor Angst geweiteten Augen vorwärts in Richtung der Tür. Ihre ersten Schritte waren stakelig und unsicher wie die eines neugeborenen Fohlens. Mit wilden Ruderbewegungen musste sie das Gleichgewicht halten.
    Noch bevor sie an der Wohnungstür war, drückte sich eine dunkle Gestalt in ihre Wohnung, sprang unvermittelt auf sie zu.
    Helen wollte schreien, aber der irre Blick des Einbrechers erschreckte sie zu Tode, ließ nur noch einen einzigen Gedanken zu.
    Flüchten!
    Helen Amadio-Meier fuhr

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