Wolfspfade 6
?“
Mir fiel kein einziger Grund ein.
Am Abend bevor ich zu meinem Jägersucher -Training aufbrechen sollte, beobachtete ich von meinem Fenster aus den Sonnenuntergang und seufzte.
„Du musst aufhören, nach mir zu suchen, chica .“
Ich wirbelte herum, in meiner Hand das Messer aus reinem Silber, das ich als Ersatz für den Brieföffner gekauft hatte. John stand mitten im Zimmer.
Er sah nicht viel besser aus als ich. Oh, seine Hose war gebügelt und sein weißes Hemd makellos sauber, aber er war blass, hatte dunkle Ringe unter den Augen und außerdem Gewicht verloren. Er hatte seinen Kinnbart abrasiert, aber der dunkle Bartschatten in seinem Gesicht ließ ihn gleichzeitig gefährlich und ein bisschen traurig aussehen.
„Wer sagt, dass ich nach dir gesucht habe?“
„Elise.“ Sein Lächeln erreichte nie die tiefblauen Augen, an deren Anblick ich mich einfach nicht gewöhnen konnte. „Diese Frau weiß alles.“
Mein Blick wurde finster, und das nicht nur, weil er mit ihr und nicht mit mir gesprochen hatte, sondern auch wegen seiner Enthüllung, dass Elise so verdammt viel wusste. Ich sollte nicht eifersüchtig sein – die beiden konnten einander noch nicht mal berühren, ohne eine Migräne zu bekommen –, trotzdem war ich es.
„Sie hat mir geraten herzukommen“, führte er weiter aus.
Meine Stimmung sank weiter in den Keller, als ich das hörte. Er war nicht gekommen, weil er es nicht länger aushielt, ohne mich zu sein, sondern weil Elise es ihm gesagt hatte.
„Du wirst nie in ein normales Leben zurückfinden, solange du die Wahrheit nicht akzeptierst“, fuhr er fort.
„Welche Wahrheit soll das sein?“
„Ich bin ein Monster, Anne.“ John fing an, sein Hemd aufzuknöpfen. „Und das werde ich auch immer bleiben.“
„Ich weiß, was du bist. Es kümmert mich nicht.“
„Du weißt es nicht wirklich.“
Das Hemd glitt zu Boden; die schwächer werdende Sonne verlieh seiner wunderschönen Haut einen sanften Schimmer. Er zog den Reißverschluss seiner Hose auf; das Geräusch zerriss die drückende Stille.
„Du weißt es nicht“, wiederholte er, „weil du es nie gesehen hast.“
Er trat seine Schuhe von den Füßen, ließ die Hose fallen, dann stand er splitternackt vor mir. Leider konnte ich den Anblick nicht genießen, weil John mich sehr, sehr nervös machte.
„Was tust du da?“
„Das, was ich schon am Anfang hätte tun sollen.“ Er schaute zum Fenster. „Nur noch ein paar Minuten.“
Ich folgte seinem Blick. Die Sonne war verschwunden; bald würde der Mond aufgehen.
Ein Halbmond.
Meine Finger verstärkten ihren Griff um das Messer, und John nickte. „Behalte es bei dir. Man weiß nie, was ein wildes Tier tun könnte.“
„Ich brauche es nicht.“ Ich knallte die Waffe auf den Tisch. „Du wirst mich nicht verletzen.“
„Verdammt noch mal, Anne! Sei keine Närrin. Nimm es.“
Ich rückte vom Tisch ab. „Nein.“
Zorn breitete sich über sein Gesicht und glomm in seinen Augen; eine Minute lang war ich verunsichert. Meine Besorgnis vergrößerte sich, als er das Messer nahm und auf mich zukam.
Trotz seines hinreißenden nackten Körpers sah ich nichts anderes als seine langen, geschmeidigen Künstlerfinger um den Messergriff.
„Du hältst es in der Hand“, flüsterte ich.
„Und?“
Ich nahm den Blick von der Klinge und richtete ihn auf sein Gesicht. „Dieses Messer ist aus reinem Silber, John. Jeder einzelne Zentimeter.“
Stirnrunzelnd öffnete er die Faust und inspizierte seine Handfläche, von der Rauch hätte aufsteigen müssen, dies aber nicht tat, dann sah er aus dem Fenster. Der Halbmond schwebte knapp über dem Horizont.
„Was zur …“
Noch bevor ich protestieren konnte, drückte er die flache Seite der Klinge an seine Brust.
Nichts passierte.
Das Messer landete klirrend auf dem Boden. „Der … der Fluch ist gebrochen“, keuchte er.
„Einfach so? Wie das?“
„Ich weiß es nicht. Lass mich nachdenken.“ John drehte sich um, offenbar völlig vergessend, dass er nichts anhatte. Mich störte es nicht. „Mawu sagte, dass ich das ultimative Opfer bringen müsse.“
„Und ihr Urur-was-auch-immer-Enkel behauptete, du müsstest alle Werwölfe ausmerzen“, erinnerte ich ihn. „Das hast du aber nicht getan.“
„Vielleicht funktionieren beide Methoden.“
„Du bist nicht gestorben. Zumindest nicht in letzter Zeit.“
„Mit dem ultimativen Opfer war nie mein Leben gemeint“, erwiderte er nachdenklich, „denn es war nicht wert,
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